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Reise in die Vergangenheit

Warum der Pädagoge Ekkehard Geiger mit PH-Studierenden nach Auschwitz fährt

  • Mi, 29. Juni 2016, 13:58 Uhr
    Freiburg

Seit 2001 fährt Ekkehard Geiger regelmäßig mit Studierenden der Pädagogischen Hochschule eine Woche nach Auschwitz. Damit hat der Schulpädagoge auch nicht aufgehört, als sein Ruhestand begann.

Sibylle Mußler, Ekkehard Geiger und Christine Winschuh (von links). Foto: Michael Bamberger
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Im Gespräch mit Anja Bochtler erzählen er und die PH-Studentinnen Sibylle Mußler (24) und Christine Winschuh (23), die unter den 21 Teilnehmenden in diesem Jahr waren, von ihren Eindrücken und vom Umgang mit Auschwitz.

BZ: Manche sagen, dass der Nationalsozialismus und der Holocaust mittlerweile an den Schulen und in den Medien so oft thematisiert würden, dass die Jüngeren nichts mehr davon hören wollen. Wie ging’s Ihnen damit, Frau Mußler und Frau Winschuh?
Christine Winschuh: Ich erinnere mich daran, dass das Thema in vier Schuljahren auftauchte, da hat sich tatsächlich einiges wiederholt. Andererseits gibt es eben sehr, sehr viele Facetten. Wie wichtig es ist, sie zu zeigen, ist mir erst jetzt so richtig bewusst geworden. Als ich von der Auschwitz-Fahrt erfahren habe, bin ich neugierig geworden, weil mir klar wurde, dass es um das Leid der Opfer gehen würde. Da wollte ich mich ’reinbegeben. Ich studiere evangelische Theologie, da sind mir emotionale Zugänge sehr wichtig.
Sibylle Mußler: In meiner Schulzeit ging es auch nur sehr rational und faktenorientiert um den Nationalsozialismus. Das war zwar interessant, aber es fehlte die Perspektive der Opfer.

BZ: Und wie war der Umgang mit dem Holocaust in Ihren Familien?
Mußler: Bei uns war das oft Thema, vor allem, weil sich meine Schwester sehr für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus interessiert hat. Mein Urgroßvater väterlicherseits wurde als Lehrer aufs Dorf zwangsversetzt. Wir haben viel darüber gesprochen, inwiefern es Widerstand innerhalb unserer Familie gab.
Winschuh: Meine Eltern sind Spätaussiedler aus der Sowjetunion, bei uns ging es immer eher um sowjetische Geschichte. Aber als ich nach Auschwitz gefahren bin, waren alle sehr interessiert.
BZ: Wie haben Ihre Freunde und wie hat Ihr weiteres Umfeld reagiert, als Sie sich zur Auschwitz-Fahrt entschlossen?
Winschuh: Manchmal wurde die Stimmung bedrückt, wenn ich es erzählte. Die Reaktionen waren teils durchwachsen, teils interessiert.
Mußler: Alle fingen an, von ihren Besuchen in KZ-Gedenkstätten zu erzählen, und wie es ihnen damit ging. Ich selbst hatte vor Auschwitz nie ein KZ besucht.
Winschuh: Ich auch nicht.
Geiger: Zu mir sagen viele: Warum eine ganze Woche Auschwitz, ein Tag reicht doch? Die Polen fragen: Aber Krakau schauen Sie sich doch auch noch an? Wir sind immer ungefähr drei Tage in Krakau und fünf oder sechs Tage in Oswiecim, wie die Stadt in Polen heißt. Dort übernachten wir in der internationalen Jugendbegegnungsstätte – das ist ein wunderbarer Ort. So haben wir viel mehr Zeit als nur für das obligatorische Standardprogramm. Wir machen uns zum Beispiel in Oswiecim auch auf die Suche nach jüdischen Spuren – vor dem Holocaust war nahezu die Hälfte der Bevölkerung jüdisch, es gab zwölf Synagogen, von denen nur noch eine erhalten ist. Und wir besuchen den jüdischen Friedhof. Im Jahr 2000 wurde der letzte Jude beerdigt, der nach dem Krieg in Oswiecim lebte, er war aus dem schwedischen Exil zurückgekehrt. Seitdem gibt es in Oswiecim keine Juden mehr.
"Wir sind die Ersten, die sich nicht schuldig fühlen, sondern
verantwortlich."Sibylle Mußler
BZ: Hat Sie etwas besonders überrascht an der KZ-Gedenkstätte?
Geiger: Unter anderem finde ich es immer beeindruckend, zu erleben, was für ein riesiger Betrieb dort herrscht: Im Jahr kommen 1,5 Millionen Gäste, manchmal 5000 an einem Tag. Das führt dazu, dass vor allem bei den üblichen Standardführungen wenig Zeit bleibt, denn von hinten drängen immer schon die nächsten nach. Wir aber nehmen uns Zeit. Wir besuchen das Stammlager und das Vernichtungslager Birkenau auch einzeln oder in Gruppen, außerdem die verschiedenen Ausstellungen und das Archiv, wo geforscht wird. Und wir haben immer Kontakt mit einem der Zeitzeugen, die Auschwitz überlebten und in der Nähe wohnen. Diesmal war Waclaw Dlugoborski da, er ist Professor für Geschichte.
Winschuh: Für mich war überraschend, dass er ein politischer Häftling war und kein Jude. Mir war gar nicht so klar gewesen, wie viele Nicht-Juden in Auschwitz waren. Und wie extrem das Land Polen unter dem Nationalsozialismus gelitten hat.

BZ: Welche Momente habe Sie am stärksten berührt?
Winschuh: Als ich das Gelände des Vernichtungslagers Birkenau sah, wurde mir so richtig klar: Hierher wurden ganz normale Familien und Menschen verbannt, die einfach nur ihr Leben leben wollten. Sie wurden als Schwerverbrecher behandelt, gequält und ermordet. Als wir an den Ruinen der Krematorien vorbeikamen, wurde mir klar, dass das Ganze vorbei ist und wir derzeit solch eine Art von Massentötung nicht erleben müssen. Aber unser Frieden ist verletzbar, darum müssen wir ihn bewusst bewahren.
Mußler: Ich habe bei unserer Spurensuche in Oswiecim begriffen, dass das eine Stadt in voller Blüte gewesen war, bis ab dem 1. September 1939 plötzlich alles vernichtet wurde. Wir haben alle viel Verantwortung, das darf nie mehr passieren! Früher hatte ich ein bisschen Angst vor der Auseinandersetzung mit dem Holocaust, ich kann das Leiden anderer nur schwer ertragen, weil ich sehr stark mit ihnen fühle. Jetzt habe ich das Gefühl, diese Auseinandersetzung ist wichtig und bringt mich weiter.

BZ: Ist für Ihre junge Generation die Auseinandersetzung leichter, weil Sie viel zeitlichen Abstand haben?
Mußler: Es ist für uns einfacher, darüber zu sprechen. Wir sind wahrscheinlich die Ersten, die sich nicht schuldig fühlen, sondern verantwortlich.
Geiger: Ich erlebe manchmal, wenn ich Gleichaltrigen von meinen Auschwitz-Fahrten erzähle, dass sie schnell das Thema wechseln. In meiner Schulzeit hatte ich guten Geschichtsunterricht, aber damals gab es keine Projekte und keine Forschungen vor Ort wie heute. Es war ein ganz anderer Zugang. Wir hatten zum Beispiel einen Lehrer, der im Krieg ein Auge verloren hatte. Und ein Pfarrer, der selbst Häftling in Dachau gewesen war, sprach immerzu darüber. Darauf haben die Menschen eher negativ reagiert, weil sie es moralisierend fanden.
"Die ersten Gruppen trauten sich nicht, auf dem Gelände Deutsch zu sprechen."Ekkehard Geiger
BZ: Wie kamen Sie zum Thema Auschwitz, Herr Geiger?
Geiger: Die Zeit des Nationalsozialismus hat mich seit langem interessiert, vor allem der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, unter anderem vom Kreisauer Kreis. 1972 war meine erste Studienreise nach Polen, seit 1996 organisiere ich deutsch-polnische Studierendenbegegnungen vor allem in Kreisau, später begann ich in Auschwitz. Für mich gehört das Thema zur Bildung jedes Deutschen.
BZ: Was hat sich verändert seit Ihren ersten Fahrten 2001?
Geiger: Die ersten Gruppen sagten immer, dass sie sich auf dem KZ-Gelände kaum trauten, Deutsch zu sprechen, besonders in der Nähe jüdischer und israelischer Gruppen. Das ist jetzt anders.
Mußler: Ich hätte sogar ganz im Gegenteil sehr gern mit einer israelischen Gruppe Kontakt aufgenommen, die ich in der Nähe gesehen habe. In unserer globalisierten Generation stehen die Deutschen eher dafür, dass sie Fußballweltmeister sind und Flüchtlinge aufnehmen, als für Auschwitz.
Geiger: Trotzdem: Auschwitz ist in der Welt, und das zuvor Unfassbare wurde real. Dadurch ist es in irgendeiner Form wiederholbar.
Mußler: Dagegen hilft Bildung.
Geiger: Nicht immer, aber natürlich bleibt das die Hoffnung. Gefährlich ist es immer, wenn das Nationale dazukommt. Da passt ein Zitat des Dramatikers Franz Grillparzer: "Der Weg der neuern Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität."
Zur Person

Ekkehard Geiger

Der 72-jährige, emeritierte Akademische Oberrat für Schulpädagogik war Geschäftsführer des Zentrums für schulpraktische Studien an der Pädagogischen Hochschule.

Sibylle Mußler

Die 24-Jährige studiert in Freiburg im neunten Semester Grundschullehramt mit den Schwerpunkten Deutsch, Französisch, Sport und Mathematik.

Christine Winschuh

ist 23 Jahre alt und studiert im achten Semester Lehramt für die Sekundarstufe I mit den Schwerpunkten Mathematik, Geographie und evangelische Theologie.

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Ressort: Freiburg

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mi, 29. Juni 2016: PDF-Version herunterladen

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