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Tom Averys Roman „Der Schatten meines Bruders“

Ursula Thomas-Stein
  • Di, 29. Juli 2014
    Literatur

"Über die Beerdigung will ich nicht reden, aber sie hat natürlich stattgefunden", schreibt Kaia in ihr Tagebuch. Kaia ist elf Jahre alt und – "tiefgefroren". So empfindet sie ihren Zustand seit gut einem Jahr. Damals ist ihr älterer Bruder gestorben, seither ist alles anders: Die Mutter trinkt, die Mitschüler ignorieren sie oder nennen sie "Freak", die Lehrer sind kurz davor, sie aufzugeben. Was ist passiert? Kaia hat Moses mit aufgeschnittenen Pulsadern gefunden, das stellt sich nach und nach heraus, und sie kann und will mit niemandem reden. Sie fängt an, Tagebuch zu schreiben.

Der Auslöser: Ein schräger Mitschüler taucht an der Schule auf. "Der Junge streicht auf dem Schulhof herum wie ein Löwe unter Hyänen – unter gackernden, schnatternden Kindern. Seine Lumpen sind durch ein Sammelsurium aus Fundsachen ersetzt, und ein Erwachsener ist ihm ständig auf den Fersen – Harry, der immer nur mit einem einzelnen Schüler arbeitet". Offenbar kann sich der wilde stumme Junge genau so wenig integrieren wie Kaia; die beiden freunden sich an: "Der Junge starrte. Ich starrte. Der Junge starrte. Ich starrte. Der Junge starrte. Ich starrte." Starren sei nicht immer unhöflich, erklärt die Ich-Erzählerin dazu, Starren sei auch gut; eigentlich eine Lebensregel des Bruders.

Und so erzählt Kaia in zehn Lebensregel-Kapiteln, wie sie den namenlosen Jungen langsam näher kennen lernt, die sturzbetrunkene Mutter ins Bett bringt, von Tagträumen und Zwiegesprächen mit dem toten Bruder. Eine schreckliche Geschichte? Ja, und auch schrecklich gut erzählt. Kaia ist eine aufgeweckte, vielschichtige Figur, die von Anfang an Rätsel aufgibt. Immer wieder deutet sie etwas an – zum Beispiel, wenn ihre Mutter verkatert nicht zur Arbeit geht, "Meine Mum von davor hätte so etwas nie gemacht", oder wenn sie von "meinen ehemaligen Freundinnen" spricht. Da liegt sprachlich so viel Lust an der Distanz drin, dass der Wunsch nach Nähe ebenso spürbar wird. "Mein Bruder wirft einen langen Schatten", stellt Kaia fest, "Auftauen ist ein langer Prozess". Eigentlich müsste ihre Situation beim Lesen erdrücken.

Aber nein, ihr Tagebuch nimmt es unverstellt mit Themen wie Selbstmord, Trauer und Anteilnahme auf und erzählt auch von den kleinen Fortschritten, die sie aufgrund der neuen Freundschaft macht – wieder auf Mitschüler und die Mutter zuzugehen. Nach einem dramatischen Finale stellt sich für Kaia und den Leser überraschend heraus: Den Jungen gibt es wohl nicht. Dank ihrer Fantasie hat sich Kaia selbst aus dem Eispanzer befreit.
– Tom Avery: Der Schatten meines Bruders. Roman. Aus dem Englischen von Wieland Freund und Andrea Wandel. Beltz & Gelberg Verlag, Weinheim 2014, 150 Seiten, 12,95 Euro. Ab 12.

Ressort: Literatur

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 29. Juli 2014: PDF-Version herunterladen

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