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London

Impressionen am Tag des offiziellen Brexit

Peter Nonnenmacher
  • Do, 30. März 2017
    Ausland

Ein Bote und ein Wachmann haben im Zug die Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft nach Brüssel überbracht – Impressionen eines historischen Tages.

Ein EU-Liebhaber trauert mit der europäischen Flagge vor dem Londoner Parlamentsgebäude. Foto: AFP
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Kalt gestellt war der Sekt vielerorts schon am Morgen. Für Brexit-Befürworter war dieser wolkenverhangene Mittwoch der viel beschworene Befreiungstag. Boris Johnson konnte, als er aus der Frühsitzung des Kabinetts in No.10 Downing Street getappt kam, ein breites Grinsen nicht unterdrücken. Seine Kabinettskollegin Andrea Leadsom, eine der prominentesten Brexit-Wortführerinnen im Vorjahr, freute sich "ganz besonders" auf diesen Tag. Nigel Farage strahlte geradezu, auf dem Rasen von Westminster. Es sei eine lange Reise gewesen seit jenen Jahren, in denen die Kampagne für den Austritt aus der EU nur ein Minderheitensport war, sagte der frühere Vorsitzende der Anti-EU-Partei Ukip, der noch immer das bekannteste Gesicht der britischen Rechtspopulisten ist. "Aber hey, jetzt sind wir da, wo wir immer hin wollten. Jetzt passiert es wirklich". Gefragt, wie er den Tag feiern werde, antwortete er: "Ich geh’ wohl ins Pub."

Einig waren sich alle an der Themse, dass es sich um einen historischen Tag handelte. Als solchen stufte ihn ja auch die Premierministerin ein. Am Abend zuvor hatte Theresa May in der Regierungszentrale die Aufkündigung der britischen EU-Mitgliedschaft unterzeichnet – unter einem Porträt Sir Robert Walpoles, des ersten britischen Premierministers, der ein prüfendes Auge auf die Szene warf. Mittwoch mittags, kurz vor halb zwei mitteleuropäischer Zeit, wurde Mays sechsseitiges Schreiben in Brüssel dem EU-Ratspräsidenten Donald Tusk übergeben. "Lieber Präsident Tusk", war der Brief überschrieben. Der britische EU-Botschafter Sir Tim Barrow hatte ihn persönlich zu überreichen. Ein Whitehall-Bote und ein Wachmann hatten das Dokument über Nacht im Eurostar nach Brüssel gebracht. Zur gleichen Zeit setzte May daheim in London das Parlament offiziell in Kenntnis. Ihre Regierung habe der EU erklärt, sagte May, "dass wir nun wieder unsere eigenen Entscheidungen fällen und unsere eigenen Gesetze machen werden". London wolle "die Kontrolle übernehmen über all die Dinge, die uns am meisten am Herzen liegen." Zu den großen Wendepunkten der nationalen Geschichte zähle dieser Schritt, sagte sie.

Unterdessen mühte May sich, versöhnliche Töne in ihre Erklärung einfließen zu lassen. Selbstverständlich, beteuerte sie, wolle Großbritannien "der beste Freund und Nachbar unserer europäischen Partner" bleiben. Man wünsche der EU gutes Gelingen, Erfolg und Wohlstand, auch ohne die Briten. Vorsichtig meldete sie dabei einen ersten Verhandlungswunsch an: Nämlich den, dass über ein künftiges Handelsabkommen parallel zu den Gesprächen über die Austrittsbedingungen verhandelt werden könne.

Höhnisches Gelächter auf den Oppositionsbänken des Unterhauses löste die Regierungschefin allerdings mit der Bemerkung aus, dass "die Welt jetzt vielleicht mehr denn je Europas liberale, demokratische Werte braucht – Werte, die wir im Vereinigten Königreich teilen". Guardian-Kommentator Jonathan Freedland schüttelte nur den Kopf über diese Logik: "May will Sicherheit, Freihandel, liberale Werte: Genau das, was wir jetzt wegwerfen. Nichts illustriert die Verrücktheit des Brexit besser als seine Umsetzung."

Mit der Brüsseler Briefübergabe beginnt für London nun die Uhr zu ticken, zum rechtzeitigen Abschluss der Verhandlungen mit der EU über Austritt und künftige Beziehungen. Sky News in London, immer fit in diesen Dingen, blockte in seine Rund-um-die-Uhr-Nachrichten am unteren Bildschirmrand gleich mal eine echte digitale Zeittafel ein. 730 Tage, 11 Stunden und 32 Minuten zeigte diese Uhr an bei der Brüsseler Briefübergabe. In dieser Frist, realistischerweise aber schon bis zum Herbst nächsten Jahres, muss eine Vereinbarung für die britische Lösung aus der EU gefunden werden. Noch vor dem 1. April 2019 soll Britannien dann wirklich aus der Europäischen Union ausgetreten sein.

Für all die, die so lange und so leidenschaftlich für den Brexit gekämpft hatten, war die Briefübergabe jedenfalls der entscheidende Schritt, der nun ihrer Ansicht nach "keinen Weg zurück mehr" erlaubt, bei der Trennung von den 27 EU-Partnern.

"Freiheit! Wir sind draußen!" jubelte die Daily Mail. Die Sun projizierte für ihre Titelseite eine unmissverständliche Botschaft an den Rest Europas auf die Kreidefelsen von Dover. "Dover & Out", zwinkerte die noch immer auflagenstärkste britische Zeitung ihren Lesern zu. Fertig, finis, zu Ende: Alles gesagt. Vor 45 Jahren waren dieselben beiden Blätter noch mit ganz anderen Schlagzeilen gekommen. Zur Aufnahme Großbritanniens in die damalige EWG meldete die Sun 1971 munter: "Rein mit uns!" Die Mail freute sich seinerzeit: "Yes! We are in business" – wir sind nun richtig mit dabei.

Andere Zeitungen, wie der labourfreundliche Daily Mirror, trugen Trauer am Mittwoch: "Liebe EU, für uns ist es Abschiedszeit." Der pro-europäische Guardian urteilte auf seiner Frontseite: "Britannien tritt in eine Welt des Unbekannten ein." Die Seite zeigte Europa als ordentlich ausgelegtes Puzzle, in dem die Stücke fürs Vereinigte Königreich fehlen. Die Republik Irland, ihres Nordens verlustig gegangen, hängt hilflos draußen im Atlantik herum.

Mahnende und warnende Worte kamen am Mittwoch auch von denen, die sich dem Brexit erfolglos entgegen gestemmt haben. Für die britischen Liberaldemokraten, die treuesten Fürsprecher der EU auf der Insel, erklärte deren Ex-Vorsitzender Nick Clegg, dies sei der Augenblick, in dem "das utopische Wunschdenken der Brexiteers" endlich auf "die harten Realitäten" stoße. Die Abgeordneten der Schottischen Nationalpartei (SNP) in Westminster drohten für den Fall eines harten Brexit erneut die Spaltung des Vereinigten Königreichs an. Den rebellischen Schotten bedeutet Mays Appell zum "Zusammenkommen hinterm Brexit" wenig.

Und einzelne Tories wie der frühere Vizepremier Lord Heseltine konnten ihren Grimm kaum zähmen. "Die schlimmste aller zu Friedenszeiten getroffenen Entscheidungen überhaupt", schimpfte Heseltine über den britischen EU-Austritt. Den "leeren Phrasen und unerfüllbaren Versprechen" der Brexit-Brigade werde nun die EU schnell ihre Bedingungen für weitere Kooperation entgegensetzen: "Die werden alle Entscheidungen treffen. Wir werden zu tun haben, was sie sagen."

Mit einer gewissen Nervosität verfolgte man in London die ersten Reaktionen aus Brüssel auf die Austrittserklärung. Donald Tusk, wortkarg und fast bedrückt, bescheinigte den Erhalt des britischen Briefs. Man könne, sagte der Ratspräsident, "nun wirklich nicht behaupten, dass dies kein trauriger Tag ist". Versichern könne er an diesem Tag nur, sagte Tusk auch, dass die EU geschlossen auf die Austrittsankündigung antworten werde. Man werde die Interessen der EU zu wahren wissen, sich aber auch darum bemühen, den Briten "einen geordneten Rückzug" zu erlauben. Letztlich, meinte Tusk, tue es ihm einfach leid, an diesem Mittwoch: "Was kann ich noch sagen? Wir vermissen euch schon jetzt. Thank you – and goodbye!"

Ressort: Ausland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 30. März 2017: PDF-Version herunterladen

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