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Wiederbelebung

Eine neue Form der Patchworkfamilie

Anita Fertl
  • Mo, 27. Juni 2016
    Liebe & Familie

Die Familienform aus dem 19. Jahrhundert wird ein bisschen anders wiederbelebt.

Ein zusammengepuzzeltes Familienleben: manchmal kompliziert, oft bereichernd.   | Foto: Anita Fertl
Ein zusammengepuzzeltes Familienleben: manchmal kompliziert, oft bereichernd. Foto: Anita Fertl
Im Wohnzimmer stapeln sich drei Umzugskartons und in der Küche gibt es im Moment noch kein Wasser. Eigentlich ist daran nichts Ungewöhnliches, denn Julia (34) und Gerhard (47), seit fünf Jahren ein Paar, sind gerade zum zweiten Mal umgezogen. Eher ungewöhnlich ist allerdings, dass sie die neue Wohnung mit ihren vier Kindern beziehen – das hat weniger mit Familienplanung, als vielmehr mit Patchwork zu tun.

Deutschland klagt über zu wenig Nachwuchs und doch sind sie da, die Großfamilien. Verliebt, verlobt, verheiratet, hieß lange das gängige Muster. Dann kam ein "geschieden" dazu, das betrifft laut Statistischem Bundesamt etwa ein Drittel aller Ehen (Stand 2014). Doch auch das ist längst nicht mehr das Ende der Fahnenstange. Wenn sich unter den Getrennten Zwei zusammentun, haben sie mit ihren Kindern eine Stieffamilie gegründet. In Deutschland sind das knapp 14 Prozent, Tendenz steigend. Kommt dann ein gemeinsames Kind, ein "Flicken" (englisch "Patch") dazu, handelt es sich um eine Patchworkfamilie.

Streng genommen sind Julia mit Hannah* (10) und Gerhard mit Annika* (16), Patrick* (15) und Leon* (13) also keine Patchworkfamilie, und doch müssen sie alle Herausforderungen stemmen, die ihr zusammengepuzzeltes Familienleben mit sich bringt: Morgens Duschen im Zehn-Minuten-Takt, dann zur Schule oder Arbeit. Montagnachmittags ist Gerhard für die vier Kinder zuständig, kocht und übernimmt den Chauffeurdienst. Von Dienstag bis Samstag sind Gerhards Kinder bei ihrer Mutter und die Familie ist geschrumpft.

Eine Sehnsucht nach der

"heilen Familie" ist schon da

Julias Tochter Hannah ist jedes zweite Wochenende bei ihrem Vater und sieht ihn jeden Dienstag. Sonntagabend ist dann der Familientisch wieder voll und alle essen gemeinsam. Danach gibt’s einen Spielabend oder es wird "Tatort" geguckt. Heute, zwei Tage nach dem Umzug, müssen Annika und Patrick dazu erst noch die Geräte anschließen. Hannah spielt nebenher, ein kleiner Ball fliegt durch die Luft: "Patrick, fang!" Der 15-Jährige dreht sich mit verschmitztem Lächeln aus der Hocke – und fängt. "Wir sind keine Schwestern, aber Kumpels", sagt Annika und knufft Hannah.

Was ist positiv an Patchwork? "Nichts eigentlich", sagt Gerhard und lacht. Dann wird er ernst: "Der Übergang, wenn die Kinder gehen, ist besser geworden. Aber anfangs war es echt hart. Ich fänd’s schön, wenn wir immer zusammen wären, klar. Man sehnt sich nach einer heilen Familie und das hier ist auseinandergerissen und zusammengewürfelt."

Auch für die Kinder war es anfangs schwierig, erinnert sich Annika zurück und selbst heute läuft nicht alles rund: "Es ist nicht so, dass Mama und Papa nicht miteinander reden. Aber weil ich die Älteste bin, bin ich manchmal zwischen allen der Vermittler, das nervt." Das Vertrauen, dass es der andere gut meint mit dem eigenen Kind, stimmt bei Julia und ihrem Expartner, sagt sie und auch Gerhard ist klar: "Man muss wahnsinnig aufpassen, dass die Kinder nicht in die Vermittlerrolle kommen. Ich hoffe, dass wir den Konflikt mal lösen können, das ist mein großer Wunsch." Und doch gibt es auch die guten Seiten, wenn Julia und Gerhard Zeit für sich haben oder wenn alle zusammen sind und es laut und lustig ist. "Das Leben wäre unkomplizierter und leichter ohne Patchwork. Man braucht viel Geduld und Toleranz. Aber so ist es halt reicher und schöner", findet Julia.

Ortswechsel. Das Haus, in dem Inga* (35) und Erik* (39) mit ihren Kindern leben, sieht sein bisschen so aus wie Pippi Langstrumpfs Villa Kunterbunt. Könnte es reden, hätte es viel zu erzählen: Zuerst hat Erik mit seiner Freundin und ihren beiden Söhnen, die sie mit in die Beziehung brachte, dort gewohnt. Schließlich kamen noch zwei gemeinsame Kinder dazu. Als sich Erik und die Mutter seiner Kinder vor elf Jahren trennten, zog er aus, sah die Kinder nur am Wochenende – und zog ein Jahr später wieder ein: "Ich wollte mit unseren Kindern und meinen Ziehkindern zusammenleben. Wir waren als Paar zwar getrennt, aber gute Freunde. Das hat sehr gut geklappt", sagt Erik. Erst, als die Expartnerin von ihrem damaligen Freund schwanger wurde, stand das Haus wieder leer, denn die "neue" Familie zog in die Schweiz.

In der Zwischenzeit hatte Erik Inga kennengelernt, die noch an der Trennung von ihrem Mann knabberte. Aus den beiden wurde ein Paar und ein Jahr später zog Inga bei Erik ein, im Gepäck drei Mädchen aus ihrer gescheiterten Ehe. Als dann die Mutter von Eriks Kindern zwei Jahre nach ihrem Auszug wieder nach Freiburg zurückkehrte, füllte sich das Haus wieder mit Eriks Kindern, die nun etwa die Hälfte der Woche bei ihm wohnen. Seither leben Inga mit ihren drei Töchtern (11, 14 und 16 Jahre) und Erik mit Sohn (12) und Tochter (16) unter einem Dach.

"Ich musste mich sehr daran gewöhnen, mit Menschen zusammenzuleben, die gar nicht zu mir gehörten. Anders als Erik bin ich nicht so durchgepatchworkt", sagt Inga und lacht. Manchmal tue sie sich schwer, dass so viele mitentscheiden, gibt sie zu: "Das ist wie eine Krake und immer bewegt sich irgendein Arm, ohne dass du etwas damit zu tun hast." Und doch hat sie sich mit der Krake arrangiert, die Kinderübergaben mit dem Expartner laufen gut und ohne viele Worte. Auch innerhalb der neuen Familie sind die Erziehungsfragen geregelt: "Wir fühlen uns nicht berufen, die Kinder des anderen mitzuerziehen. Das ist auch wichtig, denn es hat viel mit Respekt zu tun", sagt Erik und Inga ergänzt: "Natürlich kommen Diskussionen auf. Aber wir können uns freuen, dass meine Kinder mit Erik gut zurechtkommen und Eriks Kinder mit mir. Da haben wir viel gewonnen."

Auch die Kinder kommen gut miteinander klar, es gab enge Phasen und Zeiten, in denen der Kontakt nicht so intensiv war, aber: "Ich find’s total schön, dass ich so viel Halb-, Stief- oder Was-auch-immer-Geschwister habe und bin stolz darauf", sagt Marie*, Eriks Tochter. Sie kuschelt sich in die Sitzecke, grinst eine von Ingas Töchtern an, die ihr gegenübersitzt: "Da ist schon was. Das sind nicht nur drei Mädchen, wir verbringen die Hälfte unseres Lebens zusammen."

Beziehungsgeflechte

und Familienkreise

Erik träumt von einem Lagerfeuer, um das alle sitzen und grillen, das gesamte komplexe Beziehungsgeflecht, die ganzen verschiedenen Familienkreise. "Aber das geht nicht – die Befindlichkeiten. Einer macht immer die Tür zu", sagt Erik und verdreht die Augen. Doch: "Die Bande von Inga ist sehr bereichernd. Es gehört auch Glück dazu, dass man sich findet." Und könnte das Haus reden, würde es vielleicht ausplaudern, dass es bald noch einen Mitbewohner bekommt. "Jetzt vergrößern wir uns noch mal, fünf Kinder sind zu wenig", sagt Inga und lacht. *(Namen geändert)

Ressort: Liebe & Familie

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mo, 27. Juni 2016: PDF-Version herunterladen

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