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Popkultur

Wie Soundcloud-Rap den HipHop und die Musikbranche verändert

Peter Disch
  • Fr, 20. Juli 2018, 01:13 Uhr
    Rock & Pop

Internetseiten wie Soundcloud haben Rap-Stars hervorgebracht, die dem Genre neue Impulse geben und für den Wandel einer ganzen Branche stehen.

XXXTentacion bei einer Gala 2017 Foto: Bennett Raglin
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Der Tod verkauft sich gut. Als der 20 Jahre alte Rapper XXXTentacion am 18. Juni in Florida vor einem Motorradgeschäft angeschossen wurde und später im Krankenhaus starb, machten sich seine sowieso schon erfolgreichen Alben "?" und "17" zurück auf den Weg in die Top 5 der US-Charts. Die Zahl der Streams seiner Songs vervierfachte sich. Um über 1000 Händlern, die den Markt mit nicht lizenzierten Fanartikeln fluteten, etwas entgegenzusetzen, wurde eine offizielle Kollektion aufgelegt. Ein Kapuzenpulli mit dem Aufdruck "Sad" – Titel einer Single, die posthum auf Platz eins landete –, ist mit 75 Dollar das günstigste Erinnerungsstück.

Abnehmer dürfte es reichlich geben. Am Tag nach dem tödlichen Raubüberfall legten Hunderte die vierspurige Melrose Avenue in Los Angeles lahm, einen quirligen Boulevard mit kleinen Läden, Bars und Second-Hand-Shops. Einige formten aus Kerzen ein großes X. Jugendliche sprange kopfüber vom Dach einer Autowaschanlage in die Menge. Als die Stimmung kippte, rückten Polizisten in Kampfmontur vor. Eine Woche später nutzten viele Fans die Gelegenheit, dem Rapper die letzte Ehre zu erweisen, der im offenen Sarg in einer Sportarena in Florida aufgebahrt wurde.

XXXTentacion ist nicht der erste Rapper, der gewaltsam starb. Aber anders als Stars der 90er wie Tupac und Biggie Smalls, die sein Schicksal teilen, war XXXTentacion ein Digital Native. Und anders als sie legte er ohne die traditionelle Unterhaltungsindustrie die Basis für Ruhm und Reichtum.

Musiker träumen schon immer von maximaler künstlerischer und wirtschaftlicher Selbstbestimmung. Was die in den 80ern aufkommenden unabhängigen Plattenfirmen versprachen, aber nicht einlösten, hält nun das Internet. Ausgerechnet der Motor des globalen Kapitalismus und Konsums lässt den sozialistischen Traum wahr werden und gibt den Werktätigen des Pop die Produktionsmittel zurück – mit Plattformen wie Soundcloud oder Datpiff, auf die jeder kostenlos seine Musik hochladen kann. Ja, auch hier ist es schwer, entdeckt zu werden. Aber: Vor der digitalen Revolution entschieden das Geld der Plattenfirmen und die Präsenz in Fernsehen, Radio und Print, wer ein Star wird. Dieses mehrfache Nadelöhr kennt das Internet nicht. Jeder Nutzer ein potenzieller Fan, jeder Hörer ein möglicher Multiplikator.

Das hat Folgen. Gerade im HipHop brachten die Uploadseiten seit vier, fünf Jahren eine Reihe Stars hervor und neue Genres noch dazu, zuletzt den Mumble Rap. Geschichte wiederholt sich, auch im Pop. Als Rock in den 70ern seelenlos wurde und Virtuosität zum Selbstzweck verkam, gebar der Stillstand den Punk. Primitiv, jung, voller Kraft – ein paar Akkorde und Wut im Bauch, mehr benötigte diese Selbermacher-Gegenbewegung nicht. Auch wenn Punk schnell vorbei war, gab er Rock dauerhafte Impulse. Große Bands der Gegenwart wie Metallica oder Die Toten Hosen – ohne Punk nicht denkbar.

Ähnlich ist es heute im HipHop: Legenden wie Eminem (45) sind entsetzt. Wahnwitzige Wortspiele, individueller Vortrag – im Mumble Rap kein Thema. To mumble bedeutet "murmeln". Die Raps bestehen aus ein paar Zeilen, Phrasen, Slogans – monoton und x-fach wiederholt, unterlegt mit rohen Beats und Sounds, gerade zu Beginn regiert der Heimwerker-Style. Respekt, wer’s selber macht. Schon Fünftklässler lieben Mumble Rap, vielleicht auch, weil die Protagonisten coole Jungs aus der Abschlussklasse sein könnten: "Lil" – die Abkürzung für "Little", also Kleiner – ist Teil vieler Künstlernamen. Stars und Publikum sind nur ein paar Jahre auseinander. Beste Voraussetzung für eine Jugendkultur, bei der Eltern nicht mitkommen, weil sie Codes und Statussymbole – Kappen von Gucci! Supreme-Unterhosen! – nicht verstehen.

Das ist einerseits gut. Solange Pop das kann, trägt er weiter ein wenig der Energie in sich, die ihn in den 60ern zur gesellschaftsverändernden Kraft machte. Musiker und Fans wollten noch nie so werden, wie ihre Alten sind. Andererseits bringt er zweifelhafte Vorbilder hervor. Beispiel Pump (die Connaisseure aus der Unterstufe sparen sich das "Lil"): Er ist 17, hat gefärbte Dreadlocks, ein tätowiertes Gesicht – der typische Look des Mumble Rap. Er erfand den Ausruf "Esketit", der für "Excitement" (Begeisterung) steht und Teil der Jugendsprache wurde. Das Video zu seinem Hit "Gucci Gang" ist protzender Markenfetischismus und Machismo im Endstadium, gepaart mit einer überaus liberalen Haltung gegenüber Drogen. Lil Pump – die Zahnspange blieb für den Dreh daheim –, fährt im Lamborghini vor eine Schule, trottet durch die Gänge und lässt tütenweise Marihuana zwischen den Schließfächern fallen. Draußen verteilt eine nichtsahnende Mutti Getränke in Styrofoam-Bechern – eine unverhohlene Anspielung auf den im Rap populären "Lila Trunk", einen Mix aus Limo und rezeptpflichtigem Hustensaft. Lil Xan, ein anderer Star des Genres, hat sich gleich nach Xanax benannt, einem Medikament gegen Panikattacken mit hohem Suchtpotenzial – Kettchen mit Anhängern in Xanax-Tabletten-Form sind in den USA ein beliebter Modeschmuck geworden.

Gefährden solche Stars das junge Publikum? Drogen sind Teil des Pop. Aber wurden Jugendliche, die 1977 J. J. Cales "Cocaine" hörten, zu Abhängigen? Griffen Leser des Buchs über Christiane F. und den Berliner Heroin-Strich in den 80ern zur Spritze? Mittlerweile hat im Mumble Rap ein Umdenken stattgefunden. Dafür bedurfte es allerdings erst einer Tragödie. Rapper Lil Peep, 21, starb im November 2017 an einem Herzstillstand, Schuld war ein Cocktail aus Drogen und Medikamenten. Lil Pump schwor daraufhin öffentlich dem Xanax ab. Lil Xan sprach über den Kampf gegen die Sucht und deren Folgen.

Lil Peep galt als einer der kreativsten Köpfe des Soundcloud Rap – ein Begriff, der sich als Dachmarke für die Spielarten des internetgetriebenen HipHop durchgesetzt hat. Seine Raps waren nahe am Gesang, dazu bediente er sich bei Wave-, Indie- und atomsphärischen Rock. XXXTentacions Tracks überzeugten durch ihre zurückgenommene Tiefe. Reduktion war bei ihm kein Ausdruck fehlender Ideen, sondern bewusstes Stilmittel. Die Texte der beiden erzählten von Selbstzweifeln, Depressionen, dem Gefühlschaos der Adoleszenz – die ideale Projektionsfläche für Millionen Jugendliche, die sich unverstanden fühlen. Lil Peep und XXXTentacion übernahmen so die Rolle, die in der Grunge-Rock-Ära der Neunziger Kurt Cobain, um die Jahrtausendwende dann Chester Bennington von der Nu-Metal-Band Linkin Park ausfüllte.

Was das Vermächtnis der beiden Rapper zeigt: Die Musik der Generation Soundcloud hatte Zeit zu reifen, ihre Popularität wuchs aus sich selbst. Aus den ersten Gehversuchen entwickelte sich ein eigener Stil, der dem HipHop insgesamt neue Impulse gab. Dass XXXTentacion wegen des Vorwurfs eines brutalen Angriffs auf seine schwangere Ex-Freundin ein Prozess drohte, blieb für seinen Marktwert ohne Folgen. Kurz vor seinem Tod soll er einen Vertrag mit einem Musik-Vertrieb über 10 Millionen Dollar abgeschlossen haben.

Das altehrwürdige Warner-Label überwies Lil Pump einen Vorschuss von acht Millionen – ein typischer Deal der Internetökonomie: Wer das Spiel nicht versteht, weil er aus einer anderen Zeit stammt, muss für Start-ups viel Geld hinlegen. Dass klassische Plattenfirmen auf dem Rückzug sind, zeigt der Weg von Chance The Rapper (25), der bisher ohne auskommt. Seine ersten Stücke tauchten 2012 bei Datpiff auf. 2016 zahlte Apple eine halbe Million Dollar für das Privileg, sein Album "Coloring Book" zwei Wochen exklusiv als kostenpflichtigen Stream anbieten zu können. Danach gab es die Tracks gratis auf Soundcloud. In der Folge änderte die Musikindustrie die Regeln ihres wichtigsten Branchenpreis. So schrieb "Coloring Book" 2017 Geschichte – als erstes Streaming-only-Album, das einen Grammy erhielt. Als CD ist dieser Meilenstein des HipHop nicht erschienen.

Soundcloud ist für diese Musiker zum Karrieresprungbrett geworden. Chance The Rapper arbeitet mit Weltstars wie Justin Bieber und Kanye West, Lil Pump ist auf dem Soundtrack der Superheldenkomödie "Deadpool 2" vertreten, einem der kommerziell erfolgreichsten Filme 2018. Denkbar, dass er seine Tantiemen für neue Statussymbole ausgibt. Chance The Rapper dagegen spendete bereits Millionen an Schulen seiner Heimatstadt Chicago. Auch diese Widersprüche sind Teil einer Entwicklung, die den HipHop kräftig durchgeschüttelt hat, und die noch lange nicht zu Ende sein dürfte.


Soundcloud hat wirtschaftliche Probleme


Gratiskultur Internet – das ist auch im Fall von Soundcloud eine Mär. Die Chance, Songs kostenlos ins Netz zu stellen und so vielleicht eine Karriere zu starten, hat dem 2007 gegründeten und in Berlin ansässigen Start-up erst die Inhalte und Bedeutung verschafft, um im Geschäft mit der Musik mitzuspielen.

Bis heute ist die Plattform für jedermann offen. Das Geschäftsmodell aber glich sich seit 2016 dem der kommerziellen Streaminganbieter wie Spotify an. Gratis hören und hochladen ist weiter möglich, wird aber durch Werbung finanziert, die Nutzungsmöglichkeiten sind eingeschränkt. Musiker, die komfortablere Werkzeuge für Statistik und Profilpflege und mehr Hochladezeit wollen, zahlen monatlich 7 oder 11 Euro.

Reklamefreie Hörer-Abos für 5,99 oder 9,99 Euro im Monat erlauben es, Songs offline auf dem Smartphone oder Tablet zu hören. Um diese Abos konkurrenzfähig zu machen, braucht es arrivierte Stars und Masse. Deshalb wurden Lizenzerträge mit vielen Plattenfirmen geschlossen, inklusive der Branchenriesen Universal und Sony. Nach eigenen Angaben umfasst Soundcloud heute 150 Millionen Songs.

Unklar ist, ob Soundcloud je profitabel wird – auch das ist eine Parallele zu Streamingdiensten wie Spotify. Risikokapitalinvestoren hielten das Unternehmen über die Jahre am Leben. 2016 betrug der Verlust 74,5 Millionen Dollar. 2017 mussten 40 Prozent der damals 420 Mitarbeiter gehen.

Laut US-Medien will sich das Unternehmen in Zukunft stärker auf die bezahlten Uploadmodelle konzentrieren – und damit auf die zehn Millionen Musiker, die ihre Lieder hochladen. Eine im Juni gestartete Marketingoffensive mit dem Slogan "First on Soundcloud" soll den Status als "marktführende Musik- und Audio-Discovery-Plattform" wieder in den Vordergrund rücken. Der Werbefeldzug konzentriert sich auf Großbritannien und Deutschland, die zweit- und drittgrößten Musikmärkte der Welt. Im Vereinigten Königreich geben die aufstrebenden Rapper Little Simz und Jay Prince der Kampagne ein Gesicht. In Deutschland, der Heimat von Techno, sind es in Berlin ansässige House- und Elektromusiker wie die einheimischen DJs Claptone und Jan Blomqvist sowie der Zuzüglerinnen Lotic aus den USA und Peggy Gou aus Südkorea.

Ressort: Rock & Pop

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