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Elsass

Wie in Straßburg-Neuhof die Integration funktionieren soll

Bärbel Nückles
  • Do, 11. Februar 2016, 00:00 Uhr
    Südwest

Neuhof – der Name des Viertels klingt für die meisten Straßburger nach Drogen und Gewalt, brennenden Autos und Arbeitslosigkeit, nach Tristesse. Eine Spurensuche von Bärbel Nückles.

Hohe Arbeitslosigkeit, geringe Wahlbeteiligung –  Problemviertel  | Foto: Frederic Maigrot/REA
Hohe Arbeitslosigkeit, geringe Wahlbeteiligung – Problemviertel Foto: Frederic Maigrot/REA
Draußen dämmert und regnet es. Der Beton schimmert im Licht der kaltweißen Straßenlaterne noch ein bisschen grauer als sonst. Eine Frau mit Kopftuch trägt ihre Supermarkttüten nach Hause. Ein junges Paar steuert auf das Stadtteilzentrum in Straßburg-Neuhof zu. Gleich endet die Abholzeit für die Kinder in der Nachmittagsbetreuung.

Neuhof – der Name des Viertels klingt für die meisten Straßburger nach Drogen und Gewalt, brennenden Autos und Arbeitslosigkeit, nach Tristesse. Jamila Haddoum kommt aus einer Besprechung mit dem Chef. "Hey, Jamila, wann kommst du? Wir warten!", ruft einer der Jungs ihrer Gruppe. "Ein paar Minuten noch", vertröstet ihn die 34-Jährige. Sie wirkt zierlicher als in ihren Musikvideos, weniger gestylt. Die dunklen Haare trägt sie hochgesteckt. Schwarze Jacke, schwarzes Kleid. Fünfzehn Jahre lang war sie Teil des Rap-Duos Djiness, tingelte durch französische Clubs, produziert von Branchengrößen wie Big Nas oder Bilal, dem Bruder des wie sie aus Neuhof stammenden französischen Vorzeigerappers Abd Al Malik. Vor fünf Jahren hat sie die Musik auf Eis gelegt. Ihren letzten Auftritt absolvierte sie hochschwanger. Dann machte sie Musik-Workshops für Jugendliche im Stadtteilzentrum, später hat man ihr einen richtigen Job angeboten. Haddoum kümmert sich jetzt um die 15- bis 25-Jährigen.

In Neuhof leben Straßburgs Ärmste, 20 000 Menschen. Die Arbeitslosenquote ist mit 38 Prozent mehr als doppelt so hoch wie im Rest der Stadt, die Bewohner des Problemviertels verdienen nur ein Drittel von dem der anderen Straßburger. Hochhäuser, wohin man schaut. Auf den ersten Blick ist dies ein Paradebeispiel für die gescheiterte Integration von Migranten und anderen, die das System an den Rand drängt. Nur die Hälfte der Jugendlichen hat hier einen Job oder einen Ausbildungsplatz. Meistens sei es nichts von Dauer, sagt Jamila Haddoum. Sie hilft ihnen bei den Lebensläufen und probt Bewerbungsgespräche. Und sie leidet mit ihnen, wenn keine Antwort kommt und sie am Ende wieder ohne Perspektive dastehen. "Wer ihnen eine Chance verweigert, treibt sie in die Arme der Drogenhändler." Es ist ein Teufelskreis. Wer aus Neuhof stammt, dem sieht man das auch an. An den Gesten. An der Art, wie er sich ausdrückt. So, als habe den Jugendlichen jemand die Postleitzahl des Viertels auf die Stirn geschrieben. Die meisten verlassen ihre Straßenzüge kaum.

Jamila Haddoum weiß von dieser unsichtbaren Trennlinie. Mit 16 ging sie auf die Hotelfachschule in einem besseren Teil der Stadt. "Ich war die Araberin", sagt sie, "auch wenn ich einen französischen Pass habe." Nach den Anschlägen von Paris im November 2015 stehen die französischen Vorstädte mehr denn je im Fokus. Sie gelten als Brutstätten des islamistischen Terrors, sie stehen für die Negation der Werte der französischen Republik. In Meinau, dem Nachbarviertel von Neuhof, hat einer der Attentäter seine radikalisierten Freunde getroffen. Mit ihnen zog er nach Syrien in den Krieg – bevor er als Selbstmordattentäter nach Paris zurückkehrte.

Als vergangenen Dezember bei den Vorwahlen die Rechtsextremen des Front National die meisten Stimmen geholt haben, ist Jamila Haddoums politisches Bewusstsein erwacht. In manchen Wahllokalen in Neuhof ist nicht einmal ein Fünftel der Wähler zur Wahl gegangen. "Wie konnte das sein?", hat sich die 34-Jährige entsetzt gefragt – und sich auf die Musik besonnen. Unterstützt von einem Straßburger Studio ist rechtzeitig zum zweiten Wahlgang ein ungewöhnlicher Wahlclip entstanden: Gemeinsam mit ihren Söhnen, vier und fünf Jahre, und Dutzenden anderen Kindern und Jugendlichen aus dem Quartier rappte sie gegen die Resignation an. "Wenn wir freiwillig auf unser Wahlrecht verzichten, weil wir frustriert und wütend sind, nehmen uns die Politiker nicht ernst", sagt Jamila Haddoum. In ihren Videos spielt sie mit den Klischees in den Köpfen der anderen. So, als wolle sie sagen: Hört auf, uns in eine Schublade zu stecken. Da führen Kinder Hasen an der Leine, als seien sie Kampfhunde. Da stecken sie sich heimlich Bonbons zu, als dealten sie Drogen. "Klar, wird hier im Viertel mit Drogen gehandelt, ich will das nicht herunterspielen", ereifert sie sich. "Aber wir sind nicht nur das."

Sie selbst ist geblieben. Trotzdem. Mit ihrem Mann hat sie am Rand von Neuhof ein Haus gekauft. Vor ein paar Jahren noch wäre das kaum vorstellbar gewesen. Wegen staatlicher Hilfsprogramme hat sich das Bild des Vorstadtghettos langsam verändert. Seit 2005 ist mit 283 Millionen Euro in ein ganzes Bündel aus Maßnahmen finanziert worden, etwa die Straßenbahn, die Neuhof mit dem Zentrum verbindet. Verfallende Hochhaustürme wurden abgerissen, kleinere Häuser dafür gebaut. Andere Wohnungen wurden saniert, Hilfsprogramme für Schulen angestoßen, Handwerksbetriebe und Dienstleister mit Steuervergünstigungen nach Neuhof gelockt. Durch die städtische und staatliche Baupolitik wurde Neuhof sogar für Mittelschichtfamilien attraktiv. Denn anders als im teuren Straßburger Zentrum ist hier Wohneigentum plötzlich erschwinglich geworden.

"Dieser Wandel spielt sich eher an den Rändern von Neuhof ab", räumt Mathieu Cahn ein. "Aber es gibt ihn, und es ist ein erster Schritt." Cahn ist Beigeordneter des Bürgermeisters. Frankreich will das hässliche Gesicht seiner Vorstädte verändern, das soziale Gefüge soll wieder ins Lot gebracht werden. "Dabei ist Neuhof in den Genuss sämtlicher Förderprogramme seit den späten 1970er-Jahren gekommen", berichtet Cahn. Neuhof war von Anfang an eine dieser "vorrangigen Sicherheitszonen", wie es im französischen Politjargon heißt. Also Zonen, in denen brave Bürger nicht einmal mehr der Polizei vertrauen. "Wer dort wegen Lärmbelästigung oder eines Nachbarschaftsstreits die Polizei ruft", sagt der Straßburger Soziologe Philippe Breton, "hat keine Chance auf Hilfe." Das Risiko sei für eine normal besetzte Streife zu groß, dorthin auszurücken.

Auch Jamila Haddoum kennt das: "Die Polizei fragt ganz genau, um welche Straße es sich handelt, wenn wir anrufen."

Ein Blick zurück: Dem Bauboom der späten 1950er- und 1960er-Jahre folgte ab den 1980ern in Neuhof wie in anderen berüchtigten französischen Vorstädten der Abstieg. "Dabei galten die Hochhaustürme anfangs als modern, als Errungenschaft", sagt Mathieu Cahn. Das Problem war jedoch die mangelnde Infrastruktur. Der Kommunalpolitiker spricht von "monofunktionellen Räumen" und ärgert sich, dass alle von sozialer Mischung reden, wenn sie Lösungen für das Elend in den Randbezirken suchen. "Was soll das sein? Bei den gutbürgerlichen Vierteln redet davon niemand." Das Angebot an Wohnraum müsse vielfältiger werden, fordert er. "Mir ist es wichtig, dass jeder wählen kann und nicht alternativlos seine Existenz erduldet." Die Zahlen der Drogen- und Gewaltdelikte seien nach wie vor hoch. "Aber es wird besser." Kommendes Jahr wird das staatliche Programm zur städtischen Renovierung" neu aufgelegt. Neuhof wird bei der landesweiten Auswahl wieder dabei sein, wird in den Genuss einer millionenschweren Förderung kommen.

Wieder klopft jemand an Jamila Haddoums Tür. Minuten später steht sie in einer Gruppe Jugendlicher. "Also, wie läuft das mit den Prospekten am Wochenende? Wer holt sie ab?" Sie verteilt Aufgaben. "Wann machen wir den Sandwichverkauf?" Der Erlös ist nicht etwa für einen wohltätigen Zweck bestimmt. Haddoums Schützlinge sparen für ihre große Reise, ihren Traum: einmal nach Los Angeles fliegen. Jeden einzelnen Cent werden sie mit kleinen Jobs selbst verdienen und beweisen, was sich erreichen lässt, wenn man bereit ist, alles dafür zu geben. Ihre Söhne stürmen voran, als Jamila Haddoums Mann durch die Tür kommt mit der kleinen, einjährigen Tochter auf dem Arm. Einer der halbstark wirkenden Jungs redet lächelnd auf das Mädchen ein. "Wir schaffen das", beharrt Jamila Haddoum und erzählt den anderen von einer Reise nach Miami. "Wir sind schon einmal ans Ziel gelangt."

Ressort: Südwest

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 11. Februar 2016: PDF-Version herunterladen

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