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Venezuela

Inflation und Mangel erschwert Menschen das Leben

Sandra Weiss
  • Fr, 17. Juni 2016
    Wirtschaft

Venezuelas Schönheiten mixen sich ihr Haarshampoo inzwischen selbst, weil das Geld für Importe aller Art fehlt.

Der Aufwand kann sich lohnen: Gabriela Isler war 2013 Miss Universum.  | Foto: AFP
Der Aufwand kann sich lohnen: Gabriela Isler war 2013 Miss Universum. Foto: AFP
CARACAS. "Gibt es nicht", ist die häufigste Antwort dieser Tage in Caracas. Inflation und Mangel treiben täglich Tausende von Menschen im Morgengrauen auf die Straße, auf der Suche nach Produkten wie Seife, Eier, Maismehl oder Windeln, für welche der Staat die Preise festlegt. Für die Waren muss man stundenlang Schlange stehen vor den Supermärkten – und wird doch oft enttäuscht, wenn die erhoffte Lieferung ausbleibt, der Laster unterwegs schon geplündert wurde oder zwei Personen weiter vorne in der Schlange das Produkt ausgeht.

Die Versorgungsengpässe plagen nicht nur die Familien aller Schichten, sondern sind auch im zweitwichtigsten Wirtschaftszweig nach dem Erdöl angekommen: in der Schönheitsindustrie, die früher jährlich zwei Milliarden Dollar (1,78 Milliarden Euro) erwirtschaftete. Kein Land hat mehr Schönheitsköniginnen hervorgebracht als Venezuela; die Damen des Landes gelten als selbstbewusst und kokett.

Die Quinta Lucchi ist eine alte Villa in La Castellana, einem der exklusivsten Viertel von Caracas. In Akademien wie dieser werden die zukünftigen Misses ausgebildet. Hier lernen die Anwärterinnen Manieren, Mode, Make-up und Rhetorik. Die Schönheitsindustrie ist einer der wenigen Wirtschaftszweige, der trotz sozialistischer Revolution in den Händen der bürgerlichen Elite geblieben ist. In guten Zeiten flogen die betuchten Familien zwei-, dreimal im Monat nach Miami, um dort die Petro-Dollars auszugeben. Sie prägten mit ihrem großspurigen Konsumverhalten das Bild des neureichen Venezolaners. Nun ist der Erdölpreis von über 100 auf 40 Dollar pro Fass abgestürzt und dem Staat, der jetzt die Wirtschaft kontrolliert, reicht das Geld schlicht nicht mehr, um sowohl die Auslandsschulden als auch den heimischen Konsum zu bedienen – zumal sich die Regierung von Präsident Nicolás Maduro mit einem festen, völlig überbewerteten Wechselkurs und Preiskontrollen selbst ein Zwangskorsett gebastelt hat. Die Konjunktur ist eingebrochen, die Inflation galoppiert.

Trotzdem ist die Schönheit noch immer ein Geschäft, wie die Inhaberin der Akademie, Luisa Lucchi, beteuert – und der Regierung ein Dorn im Auge. Die Frauen sollten sich nicht mehr föhnen, um Energie zu sparen, forderte Maduro neulich – und machte sich zum Gespött der weiblichen Bevölkerung. Dem Miss-Venezuela-Wettbewerb – Quotenrenner im venezolanischen Oppositionssender Venevision – teilte die Regierung keine Dollars mehr zu und entzog den Veranstaltern die Nutzung des Theaters, in dem der Wettbewerb traditionell stattfand. Die Organisatoren mussten mit einem kleineren Veranstaltungssaal vorliebnehmen. Es sind diese Schikanen, die über Jahre den Graben zwischen beiden Lagern immer tiefer aufgerissen haben.

Doch die Schönheitsmacher lassen sich so leicht nicht unterkriegen. Die Kleider und das Make-up für den Wettbewerb werden von ausländischen Designern und Visagisten eingeflogen. "Die Schönheit kriegen sie nicht kaputt. Wir werden bis zum Letzten für sie kämpfen", sagt Lucchi und versprüht Charme und Optimismus. Erst als Kamera und Aufnahmegerät aus sind, seufzt sie: "Es ist sehr schwierig, an Make-up oder Lippenstift zu kommen. Wir bitten reisende Freunde, uns etwas aus dem Ausland mitzubringen", erzählt sie. In ihrer Akademie verkauft sie importierte Wimperntusche und Eyeliner diverser Luxusmarken. Sie kosten ein halbes Monatsgehalt.

Der Mangel hat auch unverhoffte Nebenwirkungen. So hat er ein neues Schönheitsideal hervorgebracht: weniger Kurven, weil es keine Implantate für Schönheitsoperationen gibt, so Lucchi. Ihre Akademie überlebt noch, auch wenn die Zahl der Schülerinnen gesunken ist. Weniger gut geht es ihrer Schuhfabrik. Sie war vor zwei Jahren kurz davor, durch billige chinesische Importe bankrottzugehen. Jetzt gibt es zwar keine Importe mehr und mehr Nachfrage – aber nicht genügend Stoffe, Leder und Kartonagen, die ebenfalls importiert werden müssen. Auch Arbeiter sind knapp. "Ich hatte mal 200, aber 150 von ihnen sind inzwischen Schwarzmarkthändler, weil sie da ein Vielfaches verdienen."

Andrea ist eine hübsche 14-Jährige mit schwarzen Locken, großen schwarzen Augen und einer Zahnspange, die ihre weißen Zähne perfekt aufreiht. Andreas Vater hat zwei Jobs. Er betreibt einen Getränkehandel und verkauft nebenher als Schwarzhändler Fleisch, das er über dunkle Kanäle auftreibt. Manchmal begleitet ihn Andrea auf seinen Touren von Haus zu Haus oder erledigt Besorgungen für ihn, weil sie weiß, wie schwierig es heutzutage ist, in Venezuela drei Kinder durchzufüttern und ihre Kosmetika und Kleider zu kaufen. Aber die Familie hält es für eine gute Investition. Andrea will Model werden, um davon ihr Medizinstudium zu finanzieren.

Rhetorik-Lehrerin und Schauspielerin Betty Hass zeigt Andrea nicht nur die richtige Aussprache, sondern gibt inzwischen auch Ratschläge, wie man selber Shampoo herstellen kann. "Glycerin ist etwas leichter zu bekommen, und dank Videos auf Youtube habe ich gelernt, daraus Shampoo und Seife selbst zu machen", erzählt die fröhliche 58-Jährige. "Die ersten Versuche waren gruselig, aber man lernt dazu." Es ist ihre Art der Rebellion, um eine gewisse Kontrolle über ihr eigenes Leben wiederzuerlangen. "Es ist sehr demütigend, die wertvolle Zeit in Warteschlangen zu verschwenden." Der Mangel regt die Phantasie an: "Wir sind jetzt zwangsläufig Vegetarier", lacht sie, und erklärt, wie sie statt Industriezucker Honig oder braune Rohrzuckerhütchen verwendet oder die beliebten Maismehlfladen stattdessen aus Maniokmehl herstellt. "Ganz vorzüglich", betont Hass.

Ressort: Wirtschaft

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 17. Juni 2016: PDF-Version herunterladen

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