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Roman

"Der Krieg und das Mädchen" - zerplatzte Träume im Jahr 1914

  • Di, 24. Juni 2014
    Literatur

Jürgen Seidel erzählt in "Der Krieg und das Mädchen" von der Jugend im Jahr 1914.

"Pigeon" sollte man möglichst nicht heißen in diesen Zeiten. Der Name (die Taube) lässt gleich darauf schließen, dass Mila etwas mit dem "Erbfeind" zu tun haben muss. Tatsächlich war ihr verstorbener Vater Franzose. Das geht gar nicht im Berlin des Jahres 1914. Misstrauen und Anfeindungen schlagen der 17-Jährigen allein wegen dieses Namens entgegen.

Aber auch sonst bringt sie einiges mit, was dem Zeitgeist kurz vor Beginn des großen Krieges völlig zuwiderläuft: Mutig tritt sie auf gegenüber vermeintlichen Autoritäten wie dem Lehrer Janota. Obwohl sie eine Frau ist, will sie Ärztin werden. Sie schwärmt für die Frauen- und Friedensaktivistin Bertha von Suttner. Und sie hat mit ein paar Freunden nach dem Vorbild der Pariser Bohème den Künstlerbund "Die Somnambulen" gegründet. Gemeinsam träumen sie von einem freien und kreativen Leben.

Und die Wirklichkeit? Er könnte so schön sein, dieser sonnige Sommer 1914. Milas Freund Fritz Wanlo ist mit seiner Klasse zu einer Freizeit am Müggelsee unterwegs. Aber niemals kommt die Leichtigkeit des Seins auf. Ein System aus Macht und Unterwürfigkeit, aus Rache, Strafe und Demütigungen herrscht unter den jungen Heranwachsenden. Ein System, in dem der Einzelne nichts und die zerstörerischen Regeln der Gemeinschaft alles sind. Es wird von der Schule kräftig gefördert. "Diktator" Janota "will Soldaten aus uns machen", sagt Fritz. "Er sorgt dafür, dass man sich klein fühlt." Schon in Michael Hanekes Film "Das weiße Band" war zu besichtigen, wie der Krieg in den Köpfen und Seelen der Menschen wütete, lange bevor er zum Ausbruch kam.

Dampfloks riechen – Parolen hören

Jürgen Seidels Jugendroman begibt sich auf die gleiche Fährte, sucht nach den subtilen Spuren, die der großen Katastrophe vorausgehen. Es gelingt ihm, die unterschiedlichen Strömungen, die den Zeitgeist durchwehen, in den Charakteren seines umfangreichen Romanpersonals abzubilden. Bis in die Details hat der Autor recherchiert: Wir riechen die Dampfloks und hören die militaristischen Parolen der Offiziere unter den Reisenden. Nicht nur die Lattenbänke der dritten Klasse lassen uns nachempfinden, wie sehr Klassen- und Standesunterschiede in dieser Vorkriegsgesellschaft ihr Unwesen treiben. Es fehlt nur noch der Funke, der das Fass zum Explodieren bringt. Das Attentat von Sarajewo liefert ihn, und die Helden können endlich auf das Schlachtfeld ziehen. Die Drohung, von der Schule zu fliegen oder schlechte Noten: "Der Krieg macht alles gleichgültig", erkennt Fritz. "Nichts hat mehr eine richtige Bedeutung." Auch seine Homosexualität nicht, der er sich voller Entsetzen ausgeliefert sieht und die unter deutschen Heldenmännern gar nicht sein darf. Er hofft, dass der Krieg ihn davon wird heilen können. Andere wünschen sich, ihre persönlichen Rachegelüste ausleben zu können oder mit ihren besten Freunden zusammen die Abenteuer des Kriegs erleben zu dürfen. Was wirklich an Grauenhaftem auf sie zukommt, können die Jünglinge gar nicht ermessen.

Seidel gelingt es, sein Sittengemälde in eine anschauliche Geschichte zu packen und den Spannungsbogen über weite Strecken zu halten. Zwölfjährige allerdings, wie vom Verlag empfohlen, brauchen beim Lesen beträchtliches Durchhaltevermögen.
– Jürgen Seidel: Der Krieg und das Mädchen, cbj Verlag München 2014. 480 Seiten, 16,99 Euro. Ab 12.

Ressort: Literatur

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 24. Juni 2014: PDF-Version herunterladen

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