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England

Lego aus dem Meer

Peter Nonnenmacher
  • Mo, 23. Februar 2015
    Ausland

Schon vor 18 Jahren ist vor der englischen Küste ein Container mit den Spielzeugteilchen ins Meer gestürzt – sein Inhalt hat sich offenbar über die ganze Welt verteilt.

Ein Meer von Lego-Steinen ist der Trau...inigen Jahren direkt ans Land gespült.  | Foto: dpa
Ein Meer von Lego-Steinen ist der Traum vieler Kinder – in Cornwall werden die Teile seit einigen Jahren direkt ans Land gespült. Foto: dpa
Wer Drachen liebt, findet derzeit jede Menge an Cornwalls Küsten. Man muss nur offenen Auges über die Strände gehen. Im englischen Südwesten nämlich tun sich wundersame Dinge. Hier gibt das Meer, nach winddurchtosten Nächten, ein wahrhaft kurioses Geheimnis preis. Delphine werden an Land gespült und glänzende, schwarze Tintenfische. Seetang, Harpunen, Sauerstoffflaschen tauchen plötzlich auf. Schwimmflossen finden sich zwischen den rauen Felsen, Lebensrettungswesten und ganze Takelagen. Sogar Piraten mit richtigen Piratenschwertern gibt es. Nur eben alles in Miniaturformat.

Denn all diese Erscheinungen entpuppen sich, bei näherem Hinsehen, als Lego-Figuren. Die kleinen Plastikbausteine kommen aus dem großen Ozean. Sie haben sich aus einer Kiste auf dem Meeresgrund befreit und sind von Wind, Wetter und Meeresströmungen an Land getragen worden. Zur Freude spielender Kinder – und älterer Semester mit ungestillter Sammelleidenschaft. Seit 18 Jahren schon spült der Atlantik die bunten Spielzeugteilchen an Cornwalls Strände. Und auch heute noch landen immer neue an.

Der Stahlcontainer, in dem sie lagen, enthielt immerhin 4,8 Millionen Einzelteile. Im Februar 1997 war er 30 Kilometer westlich von Land´s End in einem Sturm von Bord des Containerschiffs "Tokio Express" ins Meer gerutscht – zusammen mit 61 anderen Containern, von denen und deren Inhalt man seither allerdings nie wieder etwas gesehen hat.

Dem Kapitän der "Tokio Express" ist das Ganze bis heute peinlich. Eine Jahrhundertwelle, sagt er, habe ihn damals erwischt. Die Lego-Teilchen aber drängt es im Wasser nach oben. Zwei Drittel von ihnen, mehr als drei Millionen, sind leicht genug, um davonzuschwimmen: Das verrät das Inventar der versunkenen Kiste. Nach und nach treiben diese Lego-Steine an Land.

"Stranddetektive" wie Tracey Williams aus Newquay haben Rundfunkreportern der BBC belustigt Auskunft über ihre langjährigen Beobachtungen erteilt. Anfangs, berichtet Williams, seien Kinder mit Eimern voller Drachen herum gelaufen und hätten die Plastikfigürchen an Touristen verkauft. Schwarze Tintenfische seien immer besonders begehrt gewesen. Von denen gab es ja auch nur 4200 Stück im Container. "Fast täglich" erhält Tracey Williams noch heute Mails und Bilder zu frischen Funden.

Mittlerweile werden die Lego-Teile weit über Cornwalls Küsten hinaus gefunden. Auch in Wales, Irland und Holland sind die Plastikstückchen gesichtet worden. Sogar an der Küste von Texas und im australischen Melbourne wollen Einheimische "Tokio-Express"-Legos gefunden haben. Ob Letztere wirklich aus der Kiste auf dem Meeresboden vor Land´s End stammen, weiß jedoch niemand mit Sicherheit zu sagen.

Unmöglich sei es nicht, meint der Ozeanograph Curtis Ebbesmeyer: Ein Lego-Tintenfisch am Strand von Texas lasse sich durchaus mit den atlantischen Strömungen erklären. "Lego ist allerdings ein beliebtes Spielzeug", schränkt Ebbesmeyer aber ein. "Und Kinder lassen Legos überall in der Welt an den Stränden liegen."

Dennoch zweifelt der amerikanische Forscher nicht daran, dass leichte Plastikstücke wie diese im Laufe der Jahre enorme Distanzen über die Meere zurücklegen können. Binnen drei Jahren, meint er, würden solche Teile es von Land´s End nach Florida schaffen. Und nach 18 Jahren könnten Legos aus der "Tokio-Express"-Fracht mehr als 90 000 Kilometer weit gereist sein. Also ist es möglich, dass sie an jeder beliebigen Küste der Welt auftauchen.

Der 71-jährige Meeres-Experte aus Los Angeles spricht mit einiger Autorität in dieser Frage. Ebbesmeyer war es, den 1990 ein Missgeschick anderer Art auf die Idee brachte, ungewöhnliches Treibgut zum Studium der Meeresströmungen zu nutzen. Damals waren südlich von Alaska 61 000 nagelneue Nike-Sneakers auf dem Weg von Korea in die USA ins Meer gerutscht. Zu Ostern 1991 gingen die Schuhe bereits an der kanadischen Küste an Land, und in den folgenden Jahren waren sie an vielen anderen Orten zu entdecken. Ihre Seriennummern erlaubten den präzisen Nachvollzug ihrer abenteuerlichen Reise.

Wirklich bekannt wurde Ebbesmeyer aber, als er zum Experten für die "Friendly Floatees", die freundlichen Quietschetierchen, wurde. Das waren die 29 000 Gummi-Enten und ihre Badezimmergenossen, die 1992 von einem Containerschiff in den Pazifik plumpsten, um sich jahrelang über alle Weltmeere hin auszubreiten. Sie füllten eine Weile viele aufgeregte Zeitungsseiten. Ihre legendäre Verbreitung regte sogar Filme und Kinderbücher an. Curt Ebbesmeyer nutzte sie zur Verbesserung seines inzwischen klassischen "Simulators für Ozeanische Oberflächen-Strömungen". Mit Hilfe der massenhaften kleinen "Drifters" ließen sich immer neue Erkenntnisse über die Bewegung der Weltmeere gewinnen.

Den Aufbau eines weitmaschigen Netzes von Informanten aber, die damals über die angelandeten Entchen berichteten, suchen nun, mit etwas einfacheren Mitteln, die Amateur-"Schatzsucher" in Cornwall zu kopieren. Zum Beispiel kann sich bei Tracey Williams auf Facebook melden, wer an unerwarteter Stelle auf die verlorenen Legos stößt. Das Schöne, meint Williams, sei dabei, dass die Funde neues Interesse an Meereskunde in England ausgelöst haben. Lehrer, die sich bei ihr gemeldet haben, benutzen die Legos im Unterricht, um ozeanische Strömungen zu erklären. Hochschulstudenten bauen die Plastikstücke in ihre Forschungsprojekte ein. Auch über die Frage zunehmender Meeresverschmutzung lässt sich anhand der winzigen Tintenfische und Drachen leichter reden. Denn so lustig die Legos an Land sind: Auf dem Meer sind sie Teil eines stetig wachsenden Problems.

Vögel halten die Plastikteile für Futter

Der Weltschifffahrts-Rat schätzt, dass jährlich mehr als 2600 Container auf den Weltmeeren "verloren" gehen. Und nicht immer sind sie voll schimmernder Drachen oder freundlicher Quietschetierchen, die man gern wieder sieht. Und auch draußen auf dem Meer ist auch mit hübschen Lego-Teilchen nicht zu spaßen. Die Stücke, warnen Tierschützer, seien für Vögel reines Gift. Plastikstücke würden von Seevögeln als Futter betrachtet und verschlungen oder den Jungen gefüttert, erklärt die in Genf ansässige Save Our Seas Foundation (Stiftung zur Rettung der Meere). Oft sei ein langsamer, qualvoller Tod die Folge für die Vögel.

Einer Berechnung Marcus Eriksens vom Five Gyres Institute in Los Angeles zufolge schwimmen zurzeit über fünf Billionen Plastikpartikel mit einem Gesamtgewicht von 270 000 Tonnen auf den Ozeanen herum. Die "toxische Brühe" vermehrt sich umso beängstigender, weil die Plastikteilchen biologisch nicht abgebaut werden können, sondern höchstens in kleinere Partikel zerfallen. Theoretisch können die Lego-Teilchen aus Cornwall jahrhundertelang über die Weltmeere ziehen. Kunststoff-Materialen können sogar Teile neuer Felsformationen werden.

Ressort: Ausland

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mo, 23. Februar 2015: PDF-Version herunterladen

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