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Revoluzzer

Einstein schuf vor 100 Jahren ein neues Bild des Kosmos

Christian J. Meier

Von Christian J. Meier

Sa, 14. November 2015 um 00:01 Uhr

Bildung & Wissen

Selten war das Burlington House so überfüllt mit Physikern wie am 6. November 1919. Der Anlass war Routine: Nicht zum ersten Mal berichtete der Astronom Frank Dyson von der Beobachtung einer Sonnenfinsternis.

Im Jahr 2013 überprüfte ein Forscherteam Einsteins Theorie am massenreichsten bekannten Neutronenstern, der bis dahin entdeckt worden war. Foto:  Science / J. Antoniadis (MPIfR)
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Doch die Bilder, die er und sein Kollege Arthur Eddington diesmal von einer Expedition nach Westafrika mitbrachten, fegten ein 200 Jahre altes Weltbild hinweg.

Als Albert Einstein am nächsten Morgen in Berlin aufwachte, war er berühmt. Die Welt werde nie mehr sein wie zuvor, waren sich die Zeitungen einig. "Papa, warum bist du so berühmt?", fragte Einsteins neunjähriger Sohn später. Das Genie antwortete bescheiden: "Wenn ein blinder Käfer an einem gekrümmten Ast entlang kriecht, merkt er nicht, dass der Ast gekrümmt ist. Ich hatte das Glück zu bemerken, was der Käfer nicht bemerkt hat."

Die britischen Astronomen hatten dem Käfer die Blindheit genommen. Ihre Aufnahmen zeigten Sterne, die am Rand der verdunkelten Sonne sichtbar wurden. Die Sterne befanden sich nicht an der Position, an der sie eigentlich sein sollten. Eddingtons Team demonstrierte so, dass Sternenlicht in der Nähe der Sonne einer gekrümmten Bahn folgt. Daher scheint es so als seien Sterne ein Stückchen verschoben. Die Astronomen bestätigten somit eine der zentralen Vorhersagen der Allgemeinen Relativitätstheorie, die Einstein vier Jahre zuvor, über mehrere Wochen im November 1915, in Berlin vorgestellt hatte.

Mit diesem Werk reihte sich Einstein endgültig in die Reihe der größten Physiker wie Nikolaus Kopernikus, Galileo Galilei oder Isaac Newton ein. Diese Forscher veränderten Weltbilder. Vor Einstein stellten sich Physiker den Weltraum vor wie eine Bühne, lediglich eine Plattform für das Schauspiel des Universums, mit Planeten, Sternen und Galaxien als Darsteller. Nach jenem Novembertag im Jahr 1919 war klar: Der Raum ist selbst ein Darsteller. Genauer gesagt, die Verbindung aus Raum und Zeit, die "Raumzeit", die Einstein schon zehn Jahre vorher in seiner Speziellen Relativitätstheorie eingeführt hatte. Dort hatte er gezeigt, dass sich für zwei Beobachter, wenn sich einer relativ zum anderen bewegt, sowohl Raum als auch Zeit unterschiedlich stauchen oder dehnen – entsprechend ihrer relativen Geschwindigkeit, daher der Name Relativitätstheorie.

Dabei blieb offen, was gilt, wenn mindestens einer der beiden Beobachter sich zunehmend schneller bewegt – wie das etwa der Fall ist, wenn der eine frei fällt, während der andere auf der Erdoberfläche steht.

Das schaffte erst die Allgemeine Relativitätstheorie, und mit ihr entdeckte Einstein die Raumzeit als aktiven Part im Schauspiel des Universums. In den folgenden Jahrzehnten entpuppte sich die Raumzeit sogar als Hauptdarsteller. "Eine der erstaunlichsten Episoden der Wissenschaftsgeschichte" nennen Jürgen Renn vom Max-Planck Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin und Michel Janssen von der University of Minnesota in Minneapolis Einsteins Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie. Denn Einstein schuf damit eine neue Theorie der Gravitation, obwohl die damals seit fast 200 Jahren gültige Gravitationslehre Newtons den Lauf der Planeten und die Phänomene der Schwerkraft auf der Erde hervorragend erklärte. Es war, als reiße jemand ein solides Haus ein und baue ein neues, obwohl das alte nur einen Haarriss aufgewiesen hatte. Lediglich die Bahn des Merkurs um die Sonne ließ sich in einem bestimmten Detail nicht mit Newtons Theorie erklären.

Einstein nutzte sein Kopflabor

Dem philosophisch tiefgründig denkenden Einstein gefiel jedoch ein Eckstein der alten Theorie ganz und gar nicht. Denn dieser setzte einen seltsamen und für Einstein inakzeptablen Zufall voraus. Die Geschichte dieses Zufalls beginnt mit einer Beobachtung, die jeder kennt: Es ist schwerer, eine Bowlingkugel in Bewegung zu setzen als einen Tennisball. Die Masse eines Objektes bestimmt dessen Trägheit, also seinen Widerstand gegen Tempoerhöhung. Newton hatte diesen Umstand in Formeln gegossen.

Es gibt aber eine Ausnahme von dem Prinzip "größere Masse – schwerer zu beschleunigen": die Gravitation. Sie sorgt dafür, dass alle Gegenstände, egal wie schwer sie sind, mit der gleichen Beschleunigung fallen. Fast jeder kennt den Schulversuch, bei dem ein Stein und eine Feder die gleiche Zeit brauchen, um in einer luftleeren Röhre zu Boden zu fallen. Newtons Antwort darauf: Die Schwerkraft zieht am Stein exakt um den passenden Betrag stärker als an der Feder, um die Massenträgheit auszugleichen.

Einstein wollte nicht einfach akzeptieren, dass die Schwerkraft sich ohne erkennbaren Grund so verhält. Er suchte nach einer Erklärung. Für den Einstein-Biographen Jürgen Neffe beherzigte das Genie die hohe Kunst der Wissenschaft, da er die ungeprüfte Voraussetzung nicht einfach hinnahm. Um einen Ansatz zu finden, benutzte Einstein eine seiner Kernkompetenzen: sein "Kopflabor", wie es Neffe nennt. Das Talent also, Experimente in Gedanken durchzuführen. Er stellte sich einen frei fallenden Aufzug vor. Ein Insasse würde den Fall gar nicht wahrnehmen, er würde frei in der Kabine schweben, abgeschirmt vom Gegenwind. Zieht er das Portemonnaie aus der Hosentasche und lässt es los, wird es einfach neben ihm her schweben. Klar, denn alle Gegenstände – Aufzug, Insasse und Geldbeutel – fallen ja gleich schnell.

Das klingt trivial, doch durch seine ungewöhnliche Betrachtungsweise erkannte Einstein: Nimmt man die Perspektive von jemandem ein, den die Schwerkraft beschleunigt, verschwindet deren Wirkung: Man wird schwerelos. Das Umgekehrte gilt ebenfalls. Bringt man die Kabine ins Weltall, weitab jedes Planeten oder Sterns, wo es also keine Schwerkraft gibt, und zieht man sie immer schneller nach oben, wird der Insasse einen Andruck auf den Boden spüren, der sich exakt anfühlt wie die Schwerkraft. Einstein schloss: Schwerkraft und Beschleunigung sind dasselbe.

Er ging noch einen Schritt weiter: Das Prinzip der Äquivalenz von Schwerkraft und Beschleunigung gilt nicht nur für feste Gegenstände, sondern für alles Physikalische, insbesondere auch für Lichtstrahlen. Die Kabine bewegt sich immer schneller nach oben. Durchquert ein Lichtstrahl die Kabine, wird der Strahl also nicht genau gegenüber des Ortes, an dem er in die Kabine eingetreten ist, auf die Kabinenwand treffen, sondern näher am Boden. Aus der Sicht des Insassen beschreibt der Strahl also einen Bogen. Das gleiche wird mit dem Lichtstrahl unter dem Einfluss der Schwerkraft passieren.

Das hat eine faszinierende Konsequenz. Schon Jahre zuvor hatte Einstein in seiner Speziellen Relativitätstheorie gefunden, dass nichts schneller von A nach B kommt als ein Lichtstrahl. Also ist unter dem Einfluss der Gravitation die kürzeste Linie zwischen A und B eine gekrümmte Linie. Somit erkannte Einstein, dass die Gravitation keine Kraft ist, sondern ein geometrischer Effekt: Massen wie die Sonne oder ganze Sternensysteme verformen die Raumzeit wie Bowlingkugeln eine Matratze. Somit ist es auch kein Zufall mehr, dass Massen in einem Schwerefeld gleich schnell fallen: Weil die Krümmung der Raumzeit für alle Massen gleich groß ist, rutschen alle gleich schnell auf der kosmischen Rutschbahn.

Dies in ein mathematisches Formelgerüst zu packen war eine Herkulesaufgabe. Denn die Gleichungen mussten ihre Form in allen denkbaren Bezugssystemen, egal ob relativ zueinander ruhend, sich gleichförmig bewegend, beschleunigt oder gar rotierend, beibehalten. Zudem sollte die neue Theorie nicht im luftleeren Raum schweben, sondern kompatibel mit dem vielfach geprüften, Jahrhunderte alten Gebäude der Physik bleiben.

Die dafür nötige Mathematik war nicht Einsteins Stärke. Sein Zürcher Freund, der Mathematiker Marcel Grossmann, half ihm. Einstein zeigte, wie sehr er seiner Intuition traute, denn 1913 scheiterten seine hart errungenen Formeln: Sie erklärten die Abweichungen der Merkurbahn nicht. Einstein kämpfte weiter mit den Gleichungen und brachte schließlich die Allgemeine Relativitätstheorie zur Welt.

In der Folgezeit bezogen Kosmologen die nun mitspielende Raumzeit in ihre Modelle ein. Sie stießen auf neue Darsteller im Kosmos: Schwarze Löcher – unendlich tiefe Einwölbungen der Raumzeit –, den Urknall – der Anfangspunkt eines wachsenden Weltraums – oder die bislang hypothetischen Wurmlöcher – Tunnel in der Raumzeit. Welches Gespräch über den Kosmos käme heute ohne diese Stars aus?
Albert Einstein

Der spätere Professor für theoretische Physik wurde 1879 in Ulm geboren. Einstein studierte an der Eidgenössischen Polytechnischen Schule, der späteren ETH in Zürich. Er wurde Schweizer Staatsbürger und arbeitete sieben Jahre lang im Berner Patentamt. Trotzdem hatte er Zeit, weiter im Bereich der theoretischen Physik zu arbeiten. Für seine Arbeit erhielt er 1921 den Physik-Nobelpreis. Er starb 1955 in Princeton (USA).

Ressort: Bildung & Wissen

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