Account/Login

Technologie

Virtuelle Realität fühlt sich sehr echt an

  • Sa, 16. April 2016, 00:00 Uhr
    Bildung & Wissen

Virtuelle Realität (VR) macht virtuelle Erfahrungen viel realer, als sich die meisten vorstellen können. Und sie ist im Kommen: Für dieses Jahr wird der Durchbruch im Massenmarkt erwartet.

Bei „The Climb“ sieht der ...Reality-Brille Oculus Rift entwickelt.  | Foto: Crytek/dpa
Bei „The Climb“ sieht der Spieler nur die Hände seines Avatars. Die Softwareschmiede Crytek hat das Spiel für die neue Virtual-Reality-Brille Oculus Rift entwickelt. Foto: Crytek/dpa
Er empfindet die junge Frau als Bedrohung und richtet seine Waffe auf sie, doch etwas hindert ihn daran abzudrücken. In diesem Moment hält sie ihre Pistole an ihre Stirn – und drückt ab. Zitternd lässt Sean Buckley seine Waffe sinken und schreit auf: "Das ist nicht fair!"

Erst jetzt wird ihm wieder bewusst, dass er eine Computerbrille trägt, die ihn in eine dreidimensionale künstliche Realität versetzt hat. Seine Pistole ist nicht echt, die tote Frau auch nicht. "Aber es fühlt sich so real an", beschreibt Sean Buckley sein Erlebnis im Nachhinein, "ich bin durchgedreht." Der Redakteur der amerikanischen Ausgabe des Tech-Blogs Engadget sollte nicht allzu zart besaitet sein – er schreibt regelmäßig über Virtual Reality und ist es gewohnt, in Spielen der Killer zu sein. Aber der Suizid hat ihn mitgenommen.

Virtuelle Realität (VR) macht virtuelle Erfahrungen viel realer, als sich die meisten von uns vorstellen können. Und sie ist im Kommen: Für dieses Jahr wird der Durchbruch im Massenmarkt erwartet. Sie kann nicht nur Computerspiele verändern, sondern auch das echte Leben.

Das erfuhren beispielsweise verurteilte Straftäter in Spanien, die auf freiwilliger Basis an einem Experiment zur Resozialisierung teilnahmen: Die Männer, die wegen Gewalt gegen Frauen verurteilt worden waren, wurden mittels Virtual Reality in Körper deutlich kleinerer Frauen versetzt. Dann trat ihnen in einer Art Computerspiel ein großer, furchteinflößender Mann entgegen, der sie anschrie und ihnen drohte. Das sei eine sehr reale Erfahrung gewesen, schilderten die Probanden den Leitern des EU-Forschungsprojektes Vere später. Sie konnten sich in andere hineinversetzen und spürten, was sie ihren Opfern angetan hatten.

In der Tat lässt uns die VR in anderen Körpern heimisch werden, gerade so, als wären wir jemand anders. So haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren mehrfach das Potential der Technologie für das echte Leben gezeigt. Sie versetzten beispielsweise Menschen mit rassistischen Vorurteilen in die Körper von Farbigen, wodurch deren Vorurteile abnahmen. In einem Experiment wurden Menschen als Superman inkarniert und wurden dadurch freigiebiger und in Verhandlungen frecher. Menschen, die von einem größeren Avatar verkörpert wurden, agierten aggressiver als Besitzer eines kleineren Avatars. Und wer in eine ältere Version seines eigenen Körpers versetzt wurde, legte auf einmal mehr Geld für die Rente an: Er veränderte seine Handlungen im realen Leben.

Gleichzeitig machen diese Experimente deutlich, dass die neue Technologie Menschen manipulieren kann. Mehr als das: Wenn die Erlebnisse in der VR so real sind, kann diese Traumata auslösen. So machen manche Gamer derzeit Erfahrungen, die der Gesellschaft besser erspart bleiben sollten. In einer Demo für ein Sony-Headset konnte der Spieler die Pistole an die eigene Schläfe setzen und abdrücken. Doch erste Tester litten offenbar derart unter Stress nach ihrem virtuellen Suizid, dass das Unternehmen diese Möglichkeit wieder entfernte. "Dieses Medium ist sehr mächtig, deshalb müssen wir vorsichtig mit dem sein, was wir anbieten", sagte Sony-Chef Shuhei Yoshida anschließend.

Für Thomas Metzinger sind solche Effekte einerseits ein Glücksfall. Der Philosoph der Universität Mainz belegt mittels VR-Experimenten seine These, dass unser Ich-Gefühl nicht unbedingt an unserem eigenen inneren Bild des Körpers hängt. Ein Avatar kann sich deshalb anfühlen, als gehöre er zu uns selbst – die Erfahrungen der Spieler scheinen das zu bestätigen. Das mache die Technologie machtvoll und gefährlich, so Metzinger: "Eine drohende Gefahr sind Anwendungen durch Militärs oder Geheimdienste."

Möglicherweise kann man Menschen auch ihrer wahren Identität berauben: Metzinger fürchtet, dass die Nutzung eine sogenannte Depersonalisierungsstörung auslösen könnte. Betroffene nehmen ihren eigenen Körper nicht mehr wahr: "Die echte Realität kommt einem dann nicht mehr echt vor." Ein Leben wie in der Truman-Show – und ein erster Vorgeschmack auf mögliche Nebenwirkungen der VR. "Wir beschäftigen uns schon seit vielen Jahren mit der Virtuellen Realität und waren schon in wesentlich besseren Virtual Realitys als die meisten Menschen", beschreibt Metzinger seine Motivation, "wir müssen die Menschen darüber aufklären, dass wir im gegenwärtigen Stadium noch nicht wissen, welche psychischen Langzeitfolgen die Nutzung der Technologie hat."

Zusammen mit dem Psychologen Michael Madary von der Uni Mainz hat Metzinger nun den ersten Ethikkodex für die Virtuelle Realität verfasst, der im Fachmagazin Frontiers in Robotics and Artificial Intelligence erschienen ist. Schließlich gibt es viele Fragen zu klären: Darf man Menschen etwa mittels Werbung manipulieren, wenn sie sich gerade in einem Körper aufhalten, der sie empfänglicher dafür macht? Die Forscher empfehlen, die Nutzung von Avataren zu regulieren. Darüber hinaus sollten Nutzer aufgeklärt werden, dass ein Aufenthalt in der VR anhaltende soziale Halluzinationen auslösen kann und dass das Risiko, angesichts von Gewaltdarstellungen Traumata zu erleiden, mit der neuen Technologie wächst.

Grenzen der realen Welt sollten auch Grenzen in der virtuellen bleiben, fordern sie. Schließlich werden Nutzer die VR auch als Möglichkeit sehen, Grenzen straflos zu überschreiten. Aber ebenso wie Folter kann auch eine virtuelle Vergewaltigung ähnlich schlimme Folgen haben wie in der Realität. Freiwillige Experimente mit Straftätern halten die Forscher nicht für problematisch. "Aber es ist vorhersehbar, dass Regierungen ähnliche Techniken zwangsweise anwenden werden", warnen sie.

Und nicht zuletzt haben sie auch Forderungen an ihre Kollegen: Über Risiken wie jenes, dass die Probanden eventuell ihr Verhalten ändern, ohne es selbst zu merken, sollten Wissenschaftler vorab mit den Probanden sprechen.

Virtuelle Realität versetzt uns in einen anderen Körper

Außerdem sollten die Forscher sie darüber aufklären, dass sie nicht wissen können, welche Auswirkungen die Experimente haben. Sollte man solche Versuche dann überhaupt durchführen? Man könne nicht ganz darauf verzichten, so Metzinger und Madary, schließlich nutze es der Menschheit zu erfahren, wie die VR wirke.

Nicht zuletzt sollten Forscher keine falschen Hoffnungen wecken, so die Empfehlung. Gerade im klinischen Bereich ist das heikel. Der italienische Neurowissenschaftler Salvatore Aglioti von der Universität in Rom erinnert sich an einen gelähmten Probanden, der hoffte, mittels Gedankenkraft über eine Gehirn-Computer-Schnittstelle einen Körper in der Virtuellen Realität steuern zu können. Bei anderen hatte das teilweise geklappt, bei ihm nicht. "Zuvor war ich nur gelähmt", sagte er entmutigt nach dem Experiment zu dem Wissenschaftler, "jetzt bin ich richtig gelähmt".

Ressort: Bildung & Wissen

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Sa, 16. April 2016: PDF-Version herunterladen

Artikel verlinken

Wenn Sie auf diesen Artikel von badische-zeitung.de verlinken möchten, können Sie einfach und kostenlos folgenden HTML-Code in Ihre Internetseite einbinden:

© 2024 Badische Zeitung. Keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben.
Bitte beachten Sie auch folgende Nutzungshinweise, die Datenschutzerklärung und das Impressum.

Kommentare


Weitere Artikel