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"Wir sind blind für die Gefahren"

Katharina Meyer
  • Mo, 15. Juni 2015
    Liebe & Familie

BZ-INTERVIEW mit dem Psychologen Bert te Wildt über das Suchtpotenzial des Internets.

Mal eben kurz auf der Nachrichtenwebsite schauen, ob sich nicht doch was Neues ereignet hat. Und hat das Handy nicht vorhin Plong gemacht? Ob einer meiner Freunde was auf Facebook gepostet hat? Für einige ist der stete Blick aufs Smartphone zur Gewohnheit geworden. Manche erwischt es allerdings richtig: Sie werden onlinesüchtig. Der Psychiater Bert te Wildt hat sich in seinem Buch "Digital Junkies" mit denjenigen befasst, die sich fatal im Netz verheddert haben.

BZ: Herr te Wildt, Sie schreiben in Ihrem Buch, "Den goldenen Schuss gibt es auch bei der Internetabhängigkeit". Übertreiben Sie da nicht ein bisschen?

te Wildt: Mit dem goldenen Schuss bezeichnet man ja eine tödliche Überdosis. Die gibt es tatsächlich bei den Internetabhängigen. Menschen, die nach exzessivem Internetkonsum – von 48 oder mehr Stunden am Stück – tot zusammengebrochen sind. Weil sie nicht mehr getrunken, geschlafen und gegessen haben. Das sind schon dramatische Verläufe. In Südkorea sind allein 20 Fälle dokumentiert, es gibt auch welche in Taiwan und China. Für Deutschland kennen wir bislang keine Fälle, es könnte aber eine Dunkelziffer geben.

BZ: Haben Sie eine Erklärung dafür, warum Asien so viel stärker betroffen ist?

te Wildt: Südkorea ist, wenn man so will, ein Vorreiter im negativen Sinne. Das liegt daran, dass dort die IT-Branche eine große Rolle spielt. Das Internet wird ganz früh an die Menschen gebracht. Außerdem stehen die Menschen dort sehr unter Konkurrenz- und Leistungsdruck. Dann scheint die Gefahr zu steigen, dass sie ein Ventil brauchen. Das können Suchtmittel wie Alkohol sein oder eben auch Spiele. Das ist in vielen asiatischen Ländern zu beobachten – und es kann einem etwas bange werden, da der Druck gerade auch auf Heranwachsende bei uns ja auch immens zunimmt.

BZ: Was unterscheidet den begeisterten Onlinespieler vom süchtigen?

te Wildt: Alleine an der Häufigkeit oder Dauer der Nutzung kann man es nicht festmachen. Bei 12, 14 oder 16 Stunden Internetnutzung am Tag ist eine Sucht allerdings wahrscheinlich. Entscheidend ist, dass das Verhalten nicht mehr kontrolliert werden kann. Dass die Betroffenen Entzugserscheinungen bekommen, ständig ans Internet denken. Mindestens ein Lebensbereich muss geschädigt sein – die sozialen Beziehungen, die Leistung oder die körperliche Selbstfürsorge.

BZ: Ist die Internetsucht denn als Krankheit anerkannt?

te Wildt: Die einzige nicht substanz-gebundene Abhängigkeitserkrankung, die bislang anerkannt ist, ist die Glücksspielsucht. Alle anderen Verhaltenssüchte – wie Sexsucht, Kaufsucht, Sportsucht, Arbeitssucht, sind bislang nicht anerkannt. Im wichtigsten internationalen Klassifikationssystem für psychische Erkrankungen ist die Abhängigkeit von Online-Spielen mittlerweile aber als Forschungsdiagnose anerkannt. Das ist schon relativ viel.

BZ: Sie betreiben seit mehr als zehn Jahren eine Ambulanz für Medienabhängige. Wer sucht bei Ihnen Hilfe?

te Wildt: Jede Woche stellen sich etwa fünf neue Patienten vor. Heute haben wir einen jungen Mann mit einer Onlinespiel-Abhängigkeit hier gehabt. Er hat sich aus seinem realen sozialen Umfeld immer weiter zurückgezogen, er droht, seine Ausbildung hinzuschmeißen. Das ist ein ganz typisches Beispiel. Leider dauert es häufig sehr lange, bis die Betroffenen Hilfe suchen. Oft sind es auch die Angehörigen, die zu uns kommen.

BZ: Im Internet kann man tausend Sachen machen. Wo liegen die Suchtgefahren?

te Wildt: Die häufigste Abhängigkeit ist die vom Onlinespiel, davon sind vor allem junge Männer betroffen. An zweiter Stelle steht bei uns in der Ambulanz die Abhängigkeit von Cybersexangeboten – Pornografie, erotische Chats oder Live-Webcam-Angebote. Betroffen sind da häufig Männer mittleren Alters, die im Erwachsenenleben angekommen sind – mit allem drum und dran, mit Ehe, Kindern, Job. Oft sind sie sexuell unerfüllt und versuchen, ihre Wünsche virtuell auszuleben – um vielleicht der Ehefrau nicht untreu zu werden. Dabei verheddern sie sich aber im Netz. Die dritthäufigste Gruppe sind die Abhängigen von Sozialen Netzwerken, das sind vor allem junge Frauen. Das ist noch relativ neu.

BZ: Einer neuen Studie zufolge sollen sie sogar ein Drittel der Internetsüchtigen ausmachen. Gleichzeitig ist umstritten, ob es diese Abhängigkeit überhaupt gibt.

te Wildt: Die Zeiten, die Jugendliche in Sozialen Netzwerken verbringen, sind schon extrem hoch. Bis die Betroffenen in der Zahl, in der eine Sucht auftritt, auch in den Ambulanzen ankommen, braucht es wahrscheinlich noch ein bisschen Zeit.

BZ: Wer ist Ihrer Meinung nach besonders gefährdet, internetsüchtig zu werden?

te Wildt: Die Menschen, die wirklich davon abhängig werden – und das ist ja nur ein geringer Teil der Nutzer – sind Menschen, die eine große Sehnsucht nach Nähe, Beziehung und Freundschaft haben, das aber aus Unsicherheit und Selbstwertproblemen nicht zustande bringen. Sie wählen virtuelle Kontakte, weil diese nicht so beängstigend und kränkend sind.

BZ: Sprechen wir über den Umgang mit der Sucht. Wie behandeln Sie die Betroffenen?

te Wildt: Nachdem wir festgestellt haben, wovon der Betroffene genau abhängig ist, schauen wir, wie er im besten Fall davon abstinent leben kann – oder wie er einen kontrollierten Umgang damit lernt. Dadurch werden große Zeiträume frei, die mit analogem Leben gefüllt werden müssen. Wir schauen behutsam, was realistische Ziele sind – wo kann der Betroffene anderweitig einen Kick bekommen, Freundschaft und Sexualität leben?

BZ: Sie warnen vor einem Entzug in Eigenregie. Würden Sie immer zu therapeutischer Begleitung raten?

te Wildt: Wenn wirklich eine Abhängigkeit im engeren Sinne vermutet wird, wäre ich vorsichtig mit einem kalten Entzug. Von jetzt auf gleich alle Computer wegschaffen, alle Kabel durchschneiden, das kann gefährlich sein, weil manche Abhängige depressiv oder aggressiv reagieren.

BZ: Sie kritisieren, die Gesellschaft würde sich zu wenig Gedanken um die Folgen des Internetkonsums machen. Es gibt aber auch Medienexperten, die meinen, die "Digital Natives" haben uns einiges voraus.

te Wildt: Es ist wichtig, nicht das Eine gegen das Andere auszuspielen.Wir müssen uns im Zuge der digitalen Revolution aber anschauen, an welchen Stellen das Internet hilfreich ist und an welchen nutzlos oder gar schädlich. Die Früherziehung ist so ein Beispiel: Kinder- und Jugendliche müssen erst einmal in den eigenen Körper hineinfinden. In dieser Zeit sind Medientechniken gut, die körpernäher sind: Schreiben mit der Hand, Rechnen mit dem Kopf. Medienerziehung sollte auf der Medienevolution aufbauen.

BZ: Die meisten Eltern sind ja selbst total begeistert von den neuen Medien.

te Wildt: Ich glaube, wir müssen da als Erwachsene auch vorbildhaft sein. Sonst brauchen wir nicht versuchen, die Kinder von ihren Geräten wegzubringen. Aber wir sind natürlich schon ein Stück weit selbst von den Geräten abhängig geworden – und etwas blind für ihre Gefahren.

BZ: Nun wurde jedes neue Medium mit Kritik begrüßt, oft der gesellschaftliche Niedergang beschworen. Auch bei den ersten Romanen war das der Fall – und doch ist kaum jemand lesesüchtig geworden. Warum soll das beim Internet anders sein?

te Wildt: Es stimmt, diese Vorwürfe gab es immer. Aber kein Medium hat jemals so eine Welle von Abhängigkeit erzeugt wie das Internet – geschweige denn eine, wo es wirklich um Erkrankungen ging. Es gibt mittlerweile sehr viele Einrichtungen weltweit, die sich klinisch mit Internetsucht beschäftigten, es gibt Sprechstunden, Ambulanzen, stationäre Einrichtungen. Das gab es weder beim Buch noch beim Fernsehen.

BZ: Was macht den Unterschied?

te Wildt: Entscheidend beim Internet ist, dass dort alle Medien zusammenfließen: Sie finden dort jedes Buch, jedes Bild, jeden Film, jede Musik, die in irgendeiner Weise von Bedeutung ist. Es ist ein unendlicher medialer Raum. Das macht den großen Sog aus. Dazu kommt, dass auch die Kommunikationsmedien eingeflossen sind. Sie können über das Internet quasi jeden anderen Menschen erreichen. Das heißt, sie haben unendlich viele Beziehungsmöglichkeiten – das ist einer der Punkte, warum es so abhängig macht. Und ein entscheidender Punkt ist die Verfügbarkeit – durch die mobilen Endgeräte hat jeder jederzeit Zugriff auf das Internet.

BZ: Ich kann mich also genauso in einem Buch verlieren – doch das hat eine Ende.

te Wildt: Genau. Außerdem belohnt das Buch den Leser mit Wendungen und Überraschungen, aber nicht, indem es Punkte und Likes verteilt und man Quasifreunde sammeln kann. Das Belohnungssystem – das über Dopamin und Endorphine im Gehirn funktioniert – wird durch diese Reize direkt angesprochen. Und das ist eine große Suchtstimulanz. Spiele und Netzwerke sind psychologisch gut ausgetüftelt, um die Nutzer mit solchen Belohnungen möglichst intensiv an sich zu binden.

BZ: Und über dieses Belohnungssystem entwickeln die Verhaltenssüchte regelrecht körperliche Ausprägungen?

te Wildt: Das hat man für die Glücksspielsucht – und für Internetabhängigkeit auch in ersten Zügen – nachweisen können. Da ist aber noch viel Forschung notwendig.

Bert te Wildt (Jahrgang 1969), leitet als Oberarzt die Medienambulanz der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie am LWL-Universitätsklinikum der Ruhr-Universität Bochum.

INFO: INTERNETSUCHT

Experten gehen davon aus, dass es in Deutschland 800 000 Internetsüchtige gibt und in deutschsprachigen Ländern fünf Millionen Menschen mit problematischem Gebrauch. Die Zeit, die Jugendliche im Netz zubringen, hat massiv zugenommen: Der JIMÄ-Studie zufolge ist ihre durchschnittliche Internetnutzung von 99 Minuten täglich (2006) auf 179 Minuten (2013) gestiegen. Weitere Infos finden Sie unter http://mehr.bz/elternwissen

Ressort: Liebe & Familie

Dossier: Elternwissen

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