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Sozial-integratives Wohnprojekt

Get Lucky - wie eine Behinderte ihr Elternhaus verlässt

Nadine Zeller
  • Do, 26. September 2013, 12:39 Uhr
    Südwest

Wenn Kinder von zu Hause ausziehen, ist das nie einfach – aber kann man ein behindertes Kind einfach gehen lassen? Protokoll eines Abschieds.

Zusammen singen und dem Rhythmus nachgehen: Larissa (Mitte), ihre Freundin Anne (links) und Betreuerin Melanie hören zusammen Musik von Daft Punk. Foto: Nadine Zeller
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Sie hört Stimmen. Manchmal sind sie freundlich, so wie heute. Sie unterhält sich dann mit ihnen. Doch manchmal sind die Stimmen böse. Dann schreit Larissa. In solchen Momenten kann es passieren, dass sie erst aufhört, wenn Melanie Karcher die junge Frau fest in den Arm nimmt. Nicht immer aber schafft es Melanie Karcher, die Betreuerin, dass die Stimmen verschwinden, manchmal reden sie weiter auf Larissa ein. Alles, was zu tun bleibt, ist, sie mit wilden Gesten zu verscheuchen. Ihnen einen Fußtritt zu verpassen und sie vor die Zimmertür zu setzen.

Melanie hat diese Tipps von Larissas Eltern bekommen. Sie wissen, was hilft, wenn die Psychose ihrer Tochter sie in ihren Bann zieht. 21 Jahre lang drehte sich ihr Leben um die geistig behinderte Tochter und deren Schizophrenie. Nun haben sie die Verantwortung an andere abgegeben. Es war ein schwieriger Prozess.

Es ist sieben Uhr abends im Freiburger Stadtviertel Vauban. Die 21-jährige Larissa sitzt kichernd auf der Bettkante in ihrem neuen Zimmer. Sie und ihre Freundin Anne hören den Song "Get Lucky" von Daft Punk – werde glücklich. Immer wieder stimmen sie ein und bewegen ihre Oberkörper zum Rhythmus der Musik vor und zurück.

Zusammen mit neun Jugendlichen lebt Larissa seit Anfang Juni in dem sozial-integrativen Wohnprojekt Vaubanaise. Ihre Mitbewohner sind Epileptiker, Menschen mit Trisomie 21 (auch Down-Syndrom genannt) und Autisten. Für Larissa sind es einfach ihre Freunde. Mit Robert und Johannes ging sie schon in den Waldorfschulkindergarten. Anne und Karsten kennt sie von gemeinsamen Ausflügen der Lebenshilfe. Tagsüber arbeitet Larissa als Brotbäckerin in einer anthroposophischen Bäckerei in Bruckwald. Jeden Tag holt der Bus sie um sieben Uhr morgens ab. Abends ist sie ab 17 Uhr wieder zu Hause. Dann hat sie Feierabend.

Seit drei Monaten wohnen die Jugendlichen in der Vaubanaise. Hören Musik, ziehen sich auf, nehmen sich in die Arme, gehen zur Arbeit, spielen das Kartenspiel Uno, trinken Cappuccino, gehen sich auf die Nerven – eine ganz normale WG halt. Selbstverständlich ist das nicht. Die Bewohner der Vaubanaise sind schwerst- und mehrfachbehindert. Der Regelfall ist, dass diese Menschen in einer stationären Einrichtung landen, in deren Strukturen sie sich einfügen müssen. In der Vaubanaise können sie den Alltag und ihr Leben selbst stärker mitgestalten. Die Wohneinrichtung ist dieses Jahr neu eröffnet worden, am Samstag ist Tag der offenen Tür. Sie ist genossenschaftlich finanziert und damit einzigartig in Freiburg. Die Eltern konnten wesentlich mitbestimmen, wie ihre Kinder leben. Betreuer und Assistenten der Lebenshilfe sind zwar 24 Stunden da, doch den Lebensrhythmus geben die Jugendlichen vor. Es ist ein Experiment.

Mitte Februar 2013. Larissa wohnt noch bei ihren Eltern. Vater, Mutter und Tochter sitzen um den Holz-Esstisch. Unter Larissas Arm klemmt ein eineinhalb Meter langer Plüschpanther. Sie nennt ihn Coco. Mit der freien Hand scrollt Larissa über ihren iPod-Bildschirm und spielt Lieder aus den Charts von Lana del Rey, Whiz Kalifa und DJ Ötzi. "Ihr Bruder versorgt sie mit Musik. Das mit DJ Ötzi war allerdings ihre Idee", sagt Vater Andreas Faulmüller und grinst. Bruder Yannic (20) nimmt Larissa öfter mit zum Döner essen oder ins Freibad. Ihr Vater geht mit ihr wandern im Säntis-Gebiet. Ihre Mutter holt sie jeden Freitag vom Fitnesstraining, um danach mit ihr ein Sandwich essen zu gehen. Doch die gemeinsamen Rituale können nicht alles auffangen. Larissa will sich mit Freunden treffen.

Die Stimmen gehören

nun zu ihrem Leben

Zwei Monate später. Ein Freitagabend Mitte April. Mutter und Tochter fahren gemeinsam zu einem Freiburger Fitnessstudio. Bevor es losgeht, hat Larissa einen Großteil ihrer Jacken durchprobiert. Auch den Inhalt ihrer Tasche überprüft sie: iPod, Handy, Schlüssel, Geldbeutel, Ausweis, Kaugummi. Larissa hat zwanghafte Tendenzen. Ihr Vater meint, dass sie zuletzt wieder stärker geworden seien. Larissas Mutter parkt den Wagen vor dem Sportstudio. Drinnen wartet Moritz, ihr Betreuer. Larissa strahlt, als sie ihn sieht. Hinten bei den Crosstrainern winkt ihr ein Mädchen zu. "Das ist Lena", sagt Larissa und winkt zurück. Auch der Besitzer des Fitnessstudios grüßt. Sie alle kennen Larissa. Alles hier ist vertraut. Alles ist sicher. Das ist wichtig. Larissa verabschiedet sich von ihrer Mutter mit einer Umarmung und sagt: "Bis später." Denn später – das weiß sie – werden sie und ihre Mutter zu Subway gehen und ein Sandwich essen.

Larissa braucht ihre Rituale. Sie geben ihr Halt. Sprechen die Stimmen in ihrem Kopf, beanspruchen sie Larissa. Sie reden mit ihr, kommentieren Dinge, die sie tut oder schimpfen mit ihr. Um sie zurück in die Wirklichkeit zu holen, braucht Larissa Vertrautes, an das sie anknüpfen kann. Etwas, das sie wiedererkennt. Das Ordnen von Gegenständen, der Umgang mit vertrauten Menschen, das Aufsuchen derselben Orte bieten ihr Orientierung.

Mit 13 Jahren trat Larissas schizophrene Psychose erstmals auf. Das geistig behinderte Mädchen war plötzlich apathisch und antriebslos. Sie wirkte verängstigt, lag im Bett und wollte nichts mehr von der Welt wissen. Ihre Mutter sagt: "Wir waren ratlos. Irgendwann habe ich sie gefragt: ,Larissa, redet jemand mit dir?‘" Larissa hat genickt. Von da an war klar, dass Larissa unter akustischen Wahnvorstellungen leidet.

Es ist nicht einfach, Psychosen bei Menschen mit geistiger Behinderung zu erkennen. Das liegt zum einen daran, dass psychiatrische Probleme häufig als Ausdrucksformen der geistigen Behinderung betrachtet und somit verkannt werden. Zum anderen beziehen sich Ärzte auf die Angaben des Patienten. Bei Menschen, die nur wenig oder gar nicht sprechen können, ist es schwer, zu einer Diagnose zu kommen.

Das darauffolgende Jahr verbrachte Larissa in der geschlossenen Abteilung der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sechs Wochen übernachteten Mutter oder Vater bei Larissa. "In der akuten Phase hat sie ganz viel geweint. Immer wieder hat sie gesagt: ,Der will mich töten‘", sagt ihre Mutter. Der, der sie töten wollte, war Scar. Es ist der böse Löwe aus Walt Disneys Zeichentrickfilm "König der Löwen". Was Larissa hört, sind die Stimmen der Raubkatzen aus diesem Kinderfilm. "Es sind seit Jahren dieselben Stimmen, die zu Larissa sprechen: Simba, Nala, Mufasa, Rafiki und eben Scar", erzählt ihr Vater.

Larissa bekam Haldol. Ein Antipsychotikum. Doch die Stimmen blieben. "Wir haben Uno bis zum Umfallen gespielt", sagt ihre Mutter. Das habe Larissa geholfen, an die Realität anzuknüpfen. Die immer gleichen Spielregeln. Die vertrauten Karten. Wenn Uno nicht half, pusteten sie in Larissas Ohren. "Die Plappertaschen wegpusten" nannten sie das Spiel. Manchmal half das. Ein Jahr verging. Dann wurde Larissa aus der Psychiatrie entlassen. Für weitere zwölf Monate besuchte sie eine Tagesklinik. Ihr Zustand ist inzwischen stabil, doch die Stimmen gehören nun zu ihrem Leben.

Kann man ein behindertes Kind, das bedrohliche Stimmen hört, weggeben? Aus seiner gewohnten Umgebung rausreißen? In eine Wohngemeinschaft ziehen lassen, in der teilweise unbekannte Menschen leben, die selbst mit ihren Dämonen zu kämpfen haben?

Zu Hause begann Larissa, immer stärker die Hilfe ihrer Eltern einzufordern. Zu ihrer Mutter sagte sie: "Du musst dem Scar sagen: ,Du sollst meine Tochter in Ruhe lassen!‘" Die Mutter sagte: "Lass meine Tochter in Frieden." Larissa tobte. Es musste der genaue Wortlaut sein.

In dieser Zeit stand die ganze Familie unter Strom. Irgendwann begannen die Eltern, sich gegenseitig Vorwürfe zu machen. "Es fielen Sätze wie: ,Du hast das und das gemacht, jetzt hat sie wieder eine Krise‘", sagt die Mutter. Halfen Larissas Eltern nicht, ihre Stimmen zu vertreiben, regte sie sich auf. War ganz außer sich.

Nicht einmal den Kater
wollte sie streicheln

Nach und nach begriffen die Eltern, dass ihre Tochter lernen musste, selbst mit ihren Wahnvorstellungen klarzukommen. "Das war eine schwere Entscheidung", sagt die Mutter. Denn konkret bedeutete es, sie mit ihrer Angst allein zu lassen. Die Einsicht, dass die Stimmen bleiben würden und die Eltern ihr nicht immer würden helfen können, empfindet Larissas Mutter heute als ersten Schritt des Loslassens. Verantwortung abgeben. An Larissa übergeben – ohne sie komplett allein zu lassen.

In der Vaubanaise spielen Larissas Betreuerin Melanie und Anne gerade Uno auf der Dachterrasse. Larissa ist in ihrem Zimmer. "Sie muss erst noch ihr Gespräch zu Ende führen", sagt Melanie. Larissa unterhält sich jetzt mit den Löwen in ihrem Kopf. Melanie wird später noch mal den Kopf in Larissas Zimmer stecken und schauen, ob alles okay ist. Ist es. Larissa tut es gut, nach ihrem langen Arbeitstag eine halbe Stunde für sich zu sein. Larissas Eltern haben Melanie viel über ihre Tochter verraten: dass Larissa es mag, wenn man an ihr schnüffelt, nachdem sie Deo aufgelegt hat; dass sie ihren Pferdeschwanz selbst bindet und dass sie Schmuck mag. Aktuell trägt sie ein Armband, das ihr Bruder aus Thailand mitgebracht hat.

Für Eltern mit behinderten Kindern ist das Loslassen eine besondere Herausforderung. Sie erleben ein Kind – ihr Kind –, das besonders abhängig von ihnen ist. Das erschwert das Loslassen, weil sie nicht sicher sein können, wie gut andere Menschen ihre Kinder betreuen werden. Woher sollte Larissas Mutter wissen, dass ihre jetzige Betreuerin Melanie die Stimmen verscheuchen kann? Ihrer Tochter Halt und Zuneigung gibt? Ihre kleinen Eigenheiten kennt und auf sie eingeht?

Lange Zeit war Larissa der Lebensinhalt ihrer Eltern. Sie hat deren Tage strukturiert. Das hat Zeit, Mühe und Geduld gekostet. Jetzt müssen sich die Eltern neu orientieren. Nichtbehinderte Jugendliche ziehen wegen der Ausbildung, dem Studium oder einer Partnerschaft aus. Jugendliche mit geistiger Behinderung zeigen zwar, dass sie selbstbestimmter und unabhängiger leben wollen, trauen sich diesen Schritt jedoch oft nicht zu. Die Eltern müssen sie dazu ermutigen. Das erleben viele von ihnen als Weggeben des Kindes.

Larissas Mutter deckt den Frühstückstisch auf ihrer Terrasse. Seit drei Monaten wohnt Larissa in der Vaubanaise. Gestern waren Mutter und Vater bei einem Jazzkonzert. "Es war traumhaft", sagt die Mutter. Dass sie so spontan weggehen können, ist neu für sie und ihren Mann. Beide sind berufstätig, arbeiten als Biologen im Gesundheitswesen. Lange Zeit war die Mutter Hauptverdienerin, der Vater blieb die Hälfte des Tages zu Hause. Jetzt können beide wieder voll arbeiten. Und ihre Abende frei gestalten. Larissas Mutter sagt: "Aber es ist schon auch eine Phase der Nähe zu Ende." Auch ihr Sohn Yannic zieht demnächst aus. "Larissa hat unserem Leben eine feste Struktur gegeben. Jetzt entscheiden wir spontan, ob wir gemeinsam zu Abend essen oder nicht. Das ist schön, aber man spürt auch, wie vieles auseinanderdriftet", sagt sie.

In der Vaubanaise: Als Anne zum Abendessen ruft, taucht Larissa im Türrahmen auf und freut sich, dass es Rührei gibt. Das hatte sie sich gewünscht. Sie sitzt neben Betreuerin Melanie, streichelt ab und zu deren Schulter und redet über ihren Geburtstag. Es soll eine Party geben, ihre Eltern werden auch da sein.

Heute ist der große Tag. Es gibt Raclette. Larissa wollte in der Vaubanaise feiern und das tun sie nun auch. "Kurz nach ihrem Auszug hat Larissa unsere Wohnung nicht mehr betreten", sagt ihr Vater, "ich wollte ihr einen Schal bringen, aber sie blieb an der Türschwelle stehen. Ich glaube, sie dachte, sie muss wieder hierher zurück, wenn sie die Wohnung betritt." Nicht mal Kater Strolch wollte sie streicheln. Immerhin: Vor ein paar Tagen hat Larissa die Wohnung wieder betreten und einen Kaffee getrunken. Sie weiß jetzt, dass sie in der Vaubanaise bleiben darf. Bei ihren Freunden. Als Larissas Mutter ihre Tochter vor zwei Wochen vom Fitness abgeholt hat, um ein Sandwich zu essen, meinte Larissa: "Ich will lieber in die WG."

Ressort: Südwest

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 26. September 2013: PDF-Version herunterladen

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