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Wer Kaugummi kaut, regt nicht sein Gehirn an

Claudia Füßler

Von

Mo, 22. August 2016

Gesundheit & Ernährung

Wer Kaugummi kaut, regt zwar nicht sein Gehirn an, wie oft behauptet wird – tut aber etwas für gesunde Zähne /.

Macht Spaß, aber nicht schlau: Kaugummi kauen  | Foto: LanaK (Fotolia.com)/colourbox
Macht Spaß, aber nicht schlau: Kaugummi kauen Foto: LanaK (Fotolia.com)/colourbox
Das Zeug hat angeblich Zauberkräfte: Es soll gegen Fettleibigkeit wirken. Es soll uns konzentrierter machen. Es soll die Sauerstoffversorgung in unserem Gehirn anregen und dadurch die Leistungen des Kurz- und Langzeitgedächtnisses verbessern – um bis zu sagenhafte 35 Prozent. Würden wir alle unentwegt Kaugummi kauen, wir wären schlaue und schlanke Menschen.

Es soll Lehrer geben, die das Kaugummikauen dennoch im Unterricht verbieten. Ahnungslose! Schüler, die meckernden Pädagogen mit Argumenten begegnen wollen, können sich dafür problemlos im Internet munitionieren. Und zwar nicht nur mit halbseidenen Aussagen in irgendwelchen Diskussionsforen, sondern mit wissenschaftlichen Studien. Erklärt wird der Effekt des Kaugummikauens meist so: Die Kaumuskeln würden bewegt, dadurch werde das Gehirn besser mit Blut ergo Sauerstoff versorgt, was zu einer besseren Hirnleistung führe. Plus: Kaugummikauen reize die Nerven im Mund, was ebenfalls das Hirn aktiviere.

"Das ist alles dummes Zeug", sagt Detlef H. Rost und bittet darum, das auch genau so zu schreiben. Der Marburger Psychologieprofessor, Initiator des Marburger Hochbegabtenprojekts MHP, hat sich für sein "Handbuch Intelligenz" mit mehreren Phänomen beschäftigt, denen ein Einfluss auf die menschliche Denkleistung nachgesagt wird. Das Kaugummikauen als entscheidenden Faktor hat er gänzlich ins Reich der Märchen verbannt. "Wenn Sie sich die veröffentlichten und vielzitierten Studien anschauen, stellen Sie schnell fest: Vernünftig und wissenschaftlich Fundiertes ist zu dem Thema nie publiziert worden", sagt Rost. "Es gibt da lediglich ein paar kleine Studien, die methodisch sehr windig sind."

Mehr Speichel heißt
mehr Enzyme und
mehr Schutz im Mund
Am häufigsten hapert es an der Stichprobengröße, in einer Testgruppe finden sich selten mehr als 20 bis 25 Personen. Zu wenig, um Effekte nachzuweisen, die später auch replizierbar sind. "Dabei sind die Versuche nicht aufwändig oder kostspielig, man könnte locker viel mehr Personen untersuchen", sagt Rost.

Außerdem kritisiert er die Versuchspläne. In den meisten Kaugummikaustudien werden die Probanden nur in zwei Gruppen aufgeteilt: eine, die echten Kaugummi kaut, und eine, die völlig still sitzt und nicht kaut. Manchmal gibt es eine dritte, die Luft kaut und damit zeigen soll, ob die gemessene Wirkung vom Kauen an sich oder eher den Inhaltsstoffen des Kaugummis stammt. "Menschen, die nicht Kaugummi kauen, sitzen ja im echten Leben nicht still herum, sie bewegen sich, drehen den Kopf oder agieren in irgendeiner einfachen Form", sagt Rost.

Im Ergebnis will zum Beispiel der Neurowissenschaftler Andrew Scholey von der australischen Swinburne University herausgefunden haben, dass kauende Menschen in stressigen Belastungssituationen weniger Angst spüren, aufmerksamer sind und weniger Stresshormone im Speichel haben. In einer anderen Studie will Scholey gezeigt haben, dass sich Kaugummikauende besser an Wörter, Bilder und Telefonnummer erinnern als Nichtkauende, nämlich um besagte 35 Prozent. Probanden, die nur Luft kauten, waren immerhin fast so gut wie die Kaugummikauenden, woraus Scholey und seine Kollegen schlossen: Das Kauen ist der Schlüsselmechanismus. Unterstützt wurden die Studien übrigens von Wrigley’s Company, weltgrößter Hersteller von Kaugummi und als solcher an positiven Ergebnissen interessiert.

Um wirklich sämtliche Zweifel auszuräumen, hat Rost mit Mitarbeiterinnen vor einigen Jahren selbst eine größere Studie zum Kaugummikauen organisiert. In zwei Experimenten ließen sie jeweils mehr als 500 Fünft- und Sechstklässler kauen oder nicht kauen und dabei Intelligenztests absolvieren oder Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Gedächtnisaufgaben lösen. Das Ergebnis: nichts. Keinerlei statistisch signifikanter Beleg dafür, dass Kaugummikauen was bringt. Lediglich bei Konzentrationsaufgaben und der kurzfristigen Merkfähigkeit fanden die Wissenschaftler einen Unterschied: Die Nichtkauer waren geringfügig besser.

Behauptungen wie die des Erlanger Intelligenzforschers Siegfried Lehrl, Kaugummi kauende Schüler seien ihren passiv vorm Lehrer sitzenden Mitschülern "mit wenigstens 30 Prozent Lernüberlegenheit" voraus, sind damit nicht nachvollziehbar. Lehrls Studien kranken ebenfalls an viel zu kleinen Stichprobengrößen und wurden nie in seriösen Fachzeitschriften veröffentlicht.

Dass die Studien mit größter Vorsicht zu genießen sind, hat auch die Mannheimer Studentin Meike Nakovics festgestellt. Für ihre Bachelorarbeit "Fördert Kaugummikauen die kognitive Leistungsfähigkeit – Mythos oder Wahrheit" im Fach Wirtschaftspädagogik hat sie alle zum Thema verfügbaren Studien recherchiert und beim Lesen festgestellt: "Nahezu alle Veröffentlichungen sind erstaunlich knapp gehalten, auf die Methoden und den Versuchsaufbau wird wenig bis gar nicht eingegangen, wer Details sucht, wird meist enttäuscht."

Nakovics kommt wie Rost auch zu dem Schluss, dass die Power für graue Zellen ganz bestimmt nicht im Kaugummi oder in den Kaubewegungen steckt. "Dafür sind die Ergebnisse zu beliebig, die Stichproben zu klein, und mit Begriffen wie Intelligenz oder Aufmerksamkeit wird völlig unstrukturiert umgegangen", sagt sie.

Doch selbst wenn der Kaugummi uns nicht zu Superhirnen macht: Aus dem Mund verbannen sollten wir ihn keinesfalls. Das Gemisch aus Kunst- und Füllstoffen, Aromen und Weichmachern wurde nämlich nicht nur von Psychologen, Neurowissenschaftlern und Kaugummiherstellern untersucht, sondern auch von Zahnärzten. Und von dieser Seite kommen eindeutig positive Signale: Kaugummi kauen tut den Zähnen gut. Sehr gut sogar. "Zunächst einmal deshalb, weil die Speichelproduktion erhöht wird", sagt Elmar Hellwig, Ärztlicher Direktor der Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie an der Universitätsklinik Freiburg.

Mehr Speichel im Mund bedeutet eine bessere Reinigung der Zähne, der Karies verursachende Zucker aus Nahrungsresten wird schnell eliminiert und vom Zahn weggeschwemmt. Außerdem steigt die Kapazität des sogenannten Bicarbonatpuffers im Speichel, der die Wirkung jener schädlichen Säuren abmildert, die sich im Biofilm an den Zähnen bilden und zur Entstehung von Karies beitragen.

Nicht zu vergessen die hohe immunologische Funktion des Speichels: Mehr Spucke im Mund heißt mehr Platz für Enzyme. "Im Prinzip erreichen sie diesen Effekt auch mit einem zuckerfreien Bonbon nach dem Essen, aber die Speichelproduktion ist beim Kaugummikauen noch einmal deutlich höher", sagt Hellwig. Menschen, die ein hohes Kariesrisiko haben, empfiehlt der Zahnmediziner daher nach dem Essen einen Kaugummi.

Xylithaltige Kaugummis

können Zähne schützen

Der muss allerdings zuckerfrei sein. Stattdessen sollte man darauf achten, dass möglichst Xylitol oder Xylit enthalten ist. Dieser Zuckeralkohol wird als Zuckeraustauschstoff verwendet und ist vor allem wegen seiner möglichen antikariogenen Wirkung bekannt. Es gibt inzwischen viele Studien zu Xylit, der Großteil bestätigt den schützenden Effekt für die Zähne, einige Studien widersprechen jedoch und finden keinerlei Wirkung des Pulvers.

Die American Dental Association ADA hat eine Übersichtsarbeit zu Xylit vorgelegt und daraus schlussfolgernd im vergangenen Jahr eine Empfehlung ausgesprochen: Xylithaltige Kaugummis können eine prophylaktische Maßnahme gegen Karies sein. "Außerdem scheint Xylit eine bestimmte Schutzfunktion für Patienten mit Erosionen zu haben", sagt Elmar Hellwig. Vor allem durch die Einwirkung verschiedener Säuren kann Zahnhartsubstanz bei diesen Menschen beschädigt werden oder ganz verloren gehen. "Offensichtlich ist es so, dass der Überzug aus Speichel über den Zähnen nach dem Kauen eines xylithaltigen Kaugummis dicker und damit wahrscheinlich resistenter ist gegen diese Säuren", erklärt Hellwig.

Mag sein, dass Kaugummi uns nicht schön und schlau macht. Aber wenn wir das nächste Mal in der Straßenbahn einem mümmelnden Teenager gegenübersitzen, wissen wir wenigstens: Der tut etwas für seine Zahngesundheit.

Eine kleine Geschichte des Kaugummis


Das Herummümmeln auf einer weichen, flexiblen Masse liegt dem Menschen quasi im Blut. Bereits in der Steinzeit wurden Baumharze gekaut, die Römer schätzten das Harz des Mastix-Pistazienbaumes, Azteken und Mayas kauten den Milchsaft des Breiapfelbaums. Dieses sogenannte Chicle dient heute vor allem in Japan als Basis zur Kaugummiherstellung. Mitte des 19. Jahrhunderts waren bei den US-Amerikanern Riegel aus Paraffinwachs beliebte Kauobjekte.

  1871 bot der New Yorker Fotograf und Erfinder Thomas Adams die ersten Chicle-Kugeln und -streifen an, damals noch ohne Geschmack. Später war vor allem Kaugummi mit Lakritzgeschmack ein Renner, die Variante mit Pfefferminz gibt es erst seit1880.

  William Wrigley Jr., der zum erfolgreichsten Kaugummifabrikanten der Welt wurde, brachte 1873 Wrigley's Juicy Fruit auf den Markt, das sich schnell zum Favoriten bei den amerikanischen Kauern entwickelte. Kurz darauf folgte Wrigley's Spearmint mit Pfefferminzgeschmack.

  Ein handelsüblicher Kaugummi besteht heute aus Kunststoffen, vorwiegend Polyisobutylen und Polyvinylacetat. Hinzu kommen Zucker oder Süßstoffe (50 bis 70 Prozent), Weichmacher, Feuchthaltemittel, Antioxidantien, Aromen, Säuren, Farbstoffe, Emulgatoren und Füllstoffe wie Aluminiumoxid, Kieselsäure oder Zellulose. Das Verschlucken eines Kaugummis ist ungefährlich: Die klebrige Masse ist zwar größtenteils unverdaulich, rutscht aber durch und verklebt weder Magen noch Darm.

Ressort: Gesundheit & Ernährung

  • Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der BZ vom Mo, 22. August 2016:
  • Zeitungsartikel im Zeitungslayout: PDF-Version herunterladen

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