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"Auch Pythagoras hat rumprobiert"

  • Di, 29. Juli 2014
    Freiburg

Neue Unterrichtskultur soll Mathematik den Schrecken nehmen – Forschung und Praxiserfahrung bereiten neue Lehrer darauf vor .

Bei Felizitas Auer (Mitte) wird Mathematik im Unterricht  verständlich.   | Foto: Michael Bamberger
Bei Felizitas Auer (Mitte) wird Mathematik im Unterricht verständlich. Foto: Michael Bamberger

"Mathe könnte fast mein Lieblingsfach sein", sagt Alexander. Wenn der Schwimmunterricht ihm nicht starke Konkurrenz machen würde. Für den Zwölfjährigen ist das noch nie anders gewesen. Für Klassenkameradin Syzana schon. Sie wechselte erst zu Beginn dieser 6. Klasse an die Denzlinger Realschule am Mauracher Berg. "Mathe macht jetzt richtig Spaß", bekennt sie. Grund sind die PH-Studierenden, die in einem einmaligen Modell ihr Praxissemester an der Ausbildungsschule verbringen – und den Matheunterricht spannend machen.

Noch in der fünften Klasse hat Syzana das Fach, seinem verbreiteten Image entsprechend, ziemlich angeödet. "Da haben wir nur Aufgaben aus dem Buch gerechnet." Nach vorgegebenen Regeln und immer gleichen Rezepten, wie es seit jeher eben zuging im Matheunterricht. Aber in diesem Schuljahr hat Syzana Feuer gefangen. "Weil ich mit Freunden was austüfteln und ausprobieren kann." Zum Beispiel rausfinden, wie alt Pia ist. Und wie viel Geld sie von ihrem Opa zum Geburtstag bekommt. Der hat nämlich zwei Umschläge mitgebracht: In einem befinden sich "dreimal so viel Euro wie du alt bist plus 18 Euro extra". Im zweiten sind "fünfmal so viel Euro wie du alt bist".

So steht es auf den Umschlägen, in denen, so viel wird von Felizitas Auer verraten, jeweils die gleichen Geldbeträge sind. Wie hoch? Auch das wird herauszufinden sein. In ihrer 51. Unterrichtsstunde hat sich die 25-jährige Studentin der Freiburger Pädagogischen Hochschule (PH) zum Ziel gesetzt, mit den 23 Schülerinnen und Schülern der Klasse 6c "Grundvorstellungen zum Gleichungsbegriff" zu entwickeln. Der betreuende Dozent Michael Marxer und fünf Kommilitonen beobachten, wie sie dabei vorgeht und ob es gelingt. Schließlich wollen die angehenden Mathelehrer Erfahrungen sammeln und lernen, wie das einstige Horrorfach Schülerinnen und Schülern schmackhaft gemacht werden kann. Und zwar nicht nur in der Theorie.

Seit dem Wintersemester 2013/14 gibt es das integrierte Semesterpraktikum (ISP) an Baden-Württembergs Pädagogischen Hochschulen. Statt wie bis dahin ein vierwöchiges Blockpraktikum zu absolvieren, verbringen die Studierenden ihr gesamtes fünftes Semester an einer Ausbildungsschule. "Ein einzigartiges Modell", schwärmt Professor Lars Holzäpfel vom Institut für mathematische Bildung und seit kurzem Leiter des Amts für Schulpraxis an der PH. Was es im bundesweiten Vergleich so einmalig mache, habe eine Freiburger Tagung im Frühjahr gezeigt: die enge Verzahnung von Praxis und Theorie nicht nur durch die Begleitseminare zu ausgewählten Themen. Einmal in der Woche ist auch ein PH-Dozent mit an der Schule, der mit seiner Studierendengruppe die Unterrichtspraxis beobachtet und analysiert.

Gute Rückmeldungen

für angehende Lehrer

Felizitas Auer bekommt gute Rückmeldungen: Zwar hätte sie abstrakte Regelsätze mit noch mehr Leben erfüllen und in die konkrete Alltagssituation zurückübersetzen können. Aber mit ihrem konsequenten Auftreten habe sie als Lehrerpersönlichkeit überzeugt. In der Tat herrscht in ihrem Unterricht konzentrierte Aufmerksamkeit. Alle machen sich auf die Suche nach der geheimnisvollen Bedeutung von "x" und lassen sich auch kein "x" für ein "u" vormachen: Es ist ihnen gelungen, die Texte der Briefumschläge in abstrakte Rechenausdrücke, so genannte Terme, zu fassen (3 mal x + 18 = 5 mal x). Aber welche Zahl steht für x?

Syzana diskutiert mit ihrer Banknachbarin Anna-Lena, wie sie das herausfinden können. Sie laufen zur Tafel, wo Felizitas Auer zwei Tipps angepinnt hat, die ihnen weiterhelfen könnten. Dann haben sie einfach ausprobiert und unterschiedliche Zahlen für x eingesetzt, aber jeweils den gleichen Wert auf jeder Seite und dabei herausgefunden: "Die gesuchte Zahl ist neun. Pia ist neun Jahre alt." Als auf beiden Seiten das gleiche Ergebnis (45 = der Betrag, der in den Umschlägen ist) rauskommt, können sie mit dem Probieren aufhören. Auf die Art könnten sie irgendwann sogar versuchen, die günstigsten Telefon- oder Stromtarife auszutüfteln.

"Eine andere Unterrichtskultur" sieht Mentorin Nadine Hettich, die auch Ausbildungsleiterin für die ganze Schule ist, im Fach Mathematik am Werk. "Wir können viel besser auf die individuellen Voraussetzungen der Schüler eingehen." "Sie denken unterschiedlich", erklärt PH-Dozent Michael Marxer. "Sie können auf unterschiedlichen Wegen zu Lösungen kommen." Mit dem früheren Rechenunterricht, sturem Pauken und Auswendiglernen, hat dieser Matheunterricht nur noch wenig zu tun. "Auch Pythagoras hat herumprobiert und wieder verworfen, bis er seinen Satz formuliert hatte", sagt Professor Holzäpfel. "Die Schüler müssen ein Gespür für Mathe entwickeln."

Ein Mädchen ist von Kommilitonin Andrea Bauer als eines identifiziert worden, das "anders denkt". Ihr "besonderes Bruchverständnis" ist ihr aufgefallen. Die Diagnose ist die Frucht eines Begleitseminars, in dem Methoden vermittelt wurden, "wie wir in den Denkprozess von Schülern reinschauen können".

Seit sechs Jahren erforscht und entwickelt das Institut für mathematische Bildung an der Freiburger PH gemeinsam mit der Technischen Universität Dortmund Lerneinheiten für den Matheunterricht, die in 20 Erproberklassen in beiden Bundesländern in Grund- und Sekundarschulen ausprobiert und ausgewertet werden. Die Forschungsergebnisse finden ihren Niederschlag in der Praxis. Felizitas Auer zum Beispiel hat "die Phasen des Unterrichtsverlaufs souverän gemeistert", wie Michael Marxer ihr bescheinigt: Auf die "Erkundungsphase", in der es kein richtig und kein falsch gibt, in der Ideen gesammelt und die neuen Erkenntnisse, gesteuert durch die Lehrerin, systematisiert und gesichert werden – Merksätze über Gleichungen werden ins Regelheft eingetragen – folgt die Phase des Übens und Vertiefens.

Nadine Hettich wertet die Betreuung der Studierenden an ihrer Schule mittlerweile als "Bereicherung und Entlastung", auch wenn der organisatorische Aufwand, sie in den Schulalltag zu integrieren, erst mal groß sei. Sie selbst lerne in den Nachbesprechungen mit dem Dozenten viel dazu. "Schulentwicklung durch die Hintertür" nennt Lars Holzäpfel das Praxissemester. Die Studierenden schätzen die kontinuierliche Anwesenheit in der Schule. "Wir kriegen alles mit, was dazugehört", sagt Jeremias Eberhardt: von der Vertretungsstunde über den Klassenausflug bis zum Elternabend. Bei manchen habe das schon zur Erkenntnis geführt, dass sie lieber was anderes machen sollten.

Studentin Birgit Bockstahler hingegen fühlt sich in ihrem Berufswunsch Lehrerin bestätigt: "Ich weiß jetzt, dass ich an der richtigen Stelle bin." Für Nadine Hettich und das 54-köpfige Kollegium an der Realschule sind die Langzeit-Praktikanten längst "zu Kollegen geworden".



Ressort: Freiburg

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