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Das Leben drinnen

  • Karin Schickinger

  • Di, 21. August 2018
    Gesundheit & Ernährung

Die Deutschen halten sich immer häufiger in geschlossenen Räumen auf – trotz schlechter Luft, zu wenig Licht und Bewegung.

60 Minuten Bewegung am Tag: Viele Kinder und Jugendliche erreichen das nicht.  | Foto: A. Tiplyashin / W. Goldswain (adobe.com)
60 Minuten Bewegung am Tag: Viele Kinder und Jugendliche erreichen das nicht. Foto: A. Tiplyashin / W. Goldswain (adobe.com)
Eine schlechte Selbsteinschätzung gehört zum Menschsein, behaupten Psychologen schon lange. Das unterstreicht eindrucksvoll eine gerade veröffentlichte Studie des Meinungsforschungsinstituts YouGov. Im Auftrag des Fensterherstellers Velux befragten die Meinungsforscher unter anderem Deutsche, wie viel Zeit sie an einem durchschnittlichen Tag innerhalb von Gebäuden verbringen. Zwei Drittel der Befragten gaben an, dass sie weniger als 18 Stunden drinnen seien. Das bedeutet, dass sie sich ihrer Meinung nach mehr als sechs Stunden am Tag im Freien aufhalten.

Laut Umweltbundesamt (UBA) verbringen die Deutschen aber 80 bis 90 Prozent ihrer Zeit in geschlossenen Räumen. "Warum Leute ihr Outdoor-Verhalten schlecht einschätzen können, da kann ich nur spekulieren", sagt Wolfram Birmili, Fachgebietsleiter Innenraumhygiene am UBA in Berlin. "Vielleicht rechnen die Menschen ihre Fahrt zur Arbeit im Auto oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln dazu."

Tatsache ist: Viele der Aktivitäten, die früher für Bewegung an der frischen Luft sorgten, sind weggefallen oder haben sich verändert. Für Sport geht der moderne Mensch gerne ins Fitnessstudio. Die Mitgliederzahlen haben sich zwischen 2007 und 2017 fast verdoppelt. Kinder und Jugendliche sitzen – anstatt draußen mit Freunden zu toben – zu Hause vor Computer oder Fernseher. Das bestätigt KiGGS, eine Studie des Robert-Koch-Instituts zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Nur rund ein Fünftel der Mädchen und weniger als ein Drittel der Jungen im Alter von 3 bis 17 Jahren bewegen sich 60 Minuten am Tag, wie es die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt.

"Wenn sich Menschen viel in Innenräumen aufhalten", sagt Wolfram Birmili, "sollten sie sich der Gefährdung bewusst sein." Denn die Luft in Innenräumen ist oft schadstoffbelastet. Auch hier stieß YouGov auf schlecht informierte Befragte. Zwei Drittel der Deutschen gehen davon aus, dass Innenraumluft gleich oder sogar weniger verschmutzt ist als Außenluft. Doch ist die Luft in geschlossenen Räumen oft schlechter als draußen. Die Gründe dafür sind vielfältig. Baustoffe oder Parkett, Möbel oder technische Geräte geben über Jahre hinweg Schadstoffe in die Raumluft ab. Auch in Kinderzimmern kann die Schadstoffkonzentration hoch sein, wofür laut Birmili vor allem Weichmacher und Duftstoffe im Spielzeug verantwortlich sind.

Ein weiteres Problem ist, dass heutige Bauweisen mit immer besseren Fenstern die Gebäude zu luftdichten Hüllen machen. Als Konsequenz entsteht wieder vermehrt Schimmel in modernen Häusern, weil feuchte Luft nicht entweichen kann. Doch Menschen atmen, schwitzen, duschen oder kochen – deshalb bildet sich zwangsläufig feuchte Luft in Wohnungen und Büroräumen.

Sogar Putzen schadet laut einer aktuellen Studie der norwegischen Universität Bergen der Gesundheit. Vor allem Reinigungssprays sollen die Lunge ähnlich stark angreifen wie Rauchen. "Die kleinen Partikel bleiben auch noch Stunden nach dem Reinigen in der Luft", erklärt Studienleiterin Cecilie Svanes.

Luft und Licht müssen

zum Menschen kommen

Die Kleinstpartikel aus den Putzmitteln gehören zu den flüchtigen organischen Verbindungen (Volatile Organic Compounds, VOCs) und finden sich außerdem in Farben, Klebstoffen und Pflegemitteln. Bis zu fünfmal stärker als die Außenluft sollen die VOCs die Raumluft belasten, hat die US-Umweltbehörde EPA ermittelt. Deshalb rät Svanes dazu, zum Putzen Mikrofasertücher und Wasser zu benutzen.

"Unsere Innenraumluft lässt sich durch eigenes Verhalten beeinflussen", sagt auch Wolfgang Birmili. Dazu gehört für ihn, mit Wohlfühlprodukten wie Kerzen oder Räucherstäbchen sparsam umzugehen. Und vor allem eins: viel lüften – auch im Winter. Wer allerdings einen besonders schadstoffarmen Platz sucht, muss raus in den Wald. Die vielen Baumkronen filtern Ruß- und Staubpartikel aus der Luft. Zudem sollen sich in der Waldluft antibiotisch wirksame Substanzen befinden. Laut Quing Li, Umweltimmunologe an der Nippon Medical School in Tokio, genügt schon ein zweistündiger Waldspaziergang pro Woche, um das Immunsystem zu stärken und die Konzentration einiger krebshemmender Proteine im Körper zu erhöhen.

Den Menschen fehlt aber nicht nur frische Luft innerhalb geschlossener Räume, ihnen fehlt auch Licht. Nur Licht in hoher Lux-Stärke steigert im Körper das Gute-Laune-Hormon Serotonin oder kann Kurzsichtigkeit verhindern (siehe Interview). Gleichzeitig ist der Körper darauf angewiesen, dass UV-Strahlung auf die Haut trifft. Denn nur so kann er wichtige Stoffe wie Vitamin D produzieren. Die US-amerikanische Anthropologin Nina Jablonski vergleicht weltweit die Lebensbedingungen von Menschen und ihr Vitamin D-Level. "Wir finden Gesundheitsbedrohungen durch städtisches Leben", sagt sie anlässlich einer Tagung in Boston. "In der Evolution der Menschheit ist es ein vergleichsweise neues Phänomen, dass wir uns mit so viel Kleidung bedecken und hauptsächlich in Gebäuden aufhalten." Deshalb heißt das Credo der Fachleute: Kommt der Mensch nicht zu Luft und Licht, müssen Luft und Licht zum Menschen kommen. Sie fordern Architekten auf, bei Modernisierungen und Neubauten für mehr Belüftung und Belichtung zu sorgen.

Ressort: Gesundheit & Ernährung

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 21. August 2018: PDF-Version herunterladen

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