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Der Mensch steht sich selbst im Weg

  • Paula Konersmann (KNA)

  • Sa, 28. November 2015
    Liebe & Familie

Zum ersten Advent: Warum Warten glücklich macht.

Inne zu halten ist  ein Grundgedanke der Adventszeit.    | Foto: dpa
Inne zu halten ist ein Grundgedanke der Adventszeit. Foto: dpa
Für viele Menschen steigt der Stress in der Adventszeit; Besinnung bleibt außen vor. "Wir haben das Warten verlernt", sagt der Psychologe Marc Wittmann. Dabei, postuliert der niederländische Philosoph Coen Simon, macht Warten doch glücklich – so der Titel seines in diesem Jahr auf Deutsch erschienenen Buches.

Die heutige Zeit sei eine des "Verlangenmüssens", schreibt Simon: Ohne sich nach etwas zu sehnen, wüssten viele Menschen nichts zu schätzen. In der Adventszeit sehnen sich viele vor allem nach Ruhe, nach mehr Zeit für ihre Liebsten und zur Vorbereitung auf das Fest. Grundsätzlich ist Zeit zu einem Statussymbol geworden: Für fast ein Drittel der Deutschen sind Zeitoasen im Alltag demnach ein Punkt, auf den es besonders hinzuarbeiten lohnt.

Emotionen –
Klebstoff für das Gedächtnis

Das kann freilich eine Falle sein. "Wer auf etwas Schönes wartet, ist häufig enttäuscht, wenn er es tatsächlich erlebt", sagt Wittmann. In vielen Familien kommt es an den Feiertagen zu Streit – gerade weil alle sich bemühen und die Erwartungen entsprechend hoch sind. Andererseits meint Simon, jeder Sehnsucht wohne eine gewisse Ahnungslosigkeit inne. Sein Beispiel: "Auch wenn Warten immer unlösbar verbunden ist mit dem, worauf man wartet, kann ich nicht behaupten, gewusst zu haben, worauf ich wartete, bevor ich Vater wurde." Im Alltag glauben die Menschen allerdings meist genau zu wissen, worauf sie warten – auf den Bus zum Beispiel. "Und wenn sie einsteigen, was machen sie als erstes? Sie zücken ihr Smartphone", sagt Wittmann. In immer mehr Situationen suchten sie Ablenkung. "Zeit ist oft das Bemerken meiner selbst", erklärt der Freiburger Wissenschaftler. "Wenn ich mich in Wartezeiten langweile, halte ich mich also selbst nicht aus." Fehlende Muße ist ein grundsätzliches Problem – der Mensch steht sich gewissermaßen selbst im Weg. "Ideen brauchen eine Plattform des Nichtstuns", erklärt der Psychologe. Der positive emotionale Effekt eines Zufallsfundes oder einer -begegnung kann sich auf das Zeitempfinden auswirken. "Emotionen sind der Klebstoff für das Gedächtnis", erklärt Wittmann. Je emotionaler jemand etwas erlebt, desto mehr prägen sich die Ereignisse ein – und desto länger fühlt sich die Zeitspanne in der Erinnerung an. Auch deshalb erscheint Kindern das Warten auf das Christkind wie eine Ewigkeit. "Dieses Staunen habe viele Erwachsene verloren", sagt Wittmann.

Umgekehrt können auch liebgewonnene Rituale die Vorfreude steigern. "Am Frühling erfreut uns nicht das Gezwitscher der Vögel, sondern dessen Wiederkehr. Und genauso ergeht es uns, wenn sich die erste kalte Nacht des Winters ankündigt und wir überlegen, ob wir den Kaminofen anfeuern sollen", meint der Philosoph Simon. Wiederholung werde im Hinblick auf Jahreszeiten und Feste selten als monoton wahrgenommen, sondern könne ein Genuss und sogar ein "Zeichen der Hoffnung" sein.

Ob die Adventszeit also vorfreudig-süß ist oder stressig, hat jeder selbst in der Hand, wie Wittmann meint. Sein Tipp: an einem Adventssonntag einmal bewusst nichts planen. Auch wenn es zunächst langweilig erscheint, denn: "Wer durch die Langeweile hindurch ist, dem kommt plötzlich eine Idee - und dann macht er etwas Kreatives, Schönes." Oder er besinnt sich auf das Bonhoeffer-Wort: "Der wartende Mensch erwartet alles von Gott. Er allein kann vom Advent in die Weihnacht gehen. Selig sind die Wartenden."

Coen Simon: Warten macht glücklich. Eine Philosophie der Sehnsucht, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2015, 190 Seiten, 19,95 Euro.
Marc Wittmann: Kleine Psychologie des Zeitempfindens, C.H. Beck, München 2013, 189 Seiten, 12,95 Euro.

Ressort: Liebe & Familie

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Sa, 28. November 2015: PDF-Version herunterladen

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