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Viel sprechen hilft viel

  • Julia Giertz (dpa)

  • Do, 22. Oktober 2020
    Gesundheit & Ernährung

Zum Welttag des Stotterns am heutigen Donnerstag möchte Sebastian Koch mit seinem "Ppppodcast" anderen Mut machen.

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. Wenn Sebastian Koch mit Ginger spricht, tut er dies fehlerfrei und flüssig – von Problemen keine Spur. Ginger ist die Katze des 28-Jährigen. Wenn er aber mit Menschen redet, ist das ganz anders: Dann stellt sich das ungewollte Verharren auf einem Buchstaben, das Wiederholen von Wörtern und das Dehnen von Vokalen ein. Koch stottert seit seiner Kindheit, er ist einer von 800 000 Stotternden in Deutschland.

Nach erfolglosen Therapien hat er die Perspektive einer Heilung ad acta gelegt und geht jetzt offensiv mit seiner Einschränkung um. Dazu lädt Sebastian Koch für seinen "Ppppodcast" Gäste ein, mit denen er über ihre Erfahrungen des Stotterns spricht. Gerade diese Kommunikationsform mit spontaner Konversation ist für Stotternde schwer zu meistern.

Warum wirken vierbeinige Freunde auf Stotterer so entspannend? Koch meint: "Sie haben – anders als die Menschen – keine Erwartungen und zeigen keine Reaktionen." Auch im Umgang mit Babys zeigt sich die Störung oft nicht. Kleine Kinder und Tiere können nicht nachäffen, sich nicht lustig machen oder einfach Redebeiträge von Stotternden ignorieren. Auch das Singen funktioniert einwandfrei. Grund: Dafür werden andere Gehirnareale gebraucht als beim Sprechen. Dies bewies unlängst ein Kandidat der TV-Show "The Voice of Germany". Der junge Schweizer Noah Sam Honneger, stellte sich der Jury singend vor, um nicht zu stottern und überzeugte.

Schwierigkeiten haben Stotternde besonders in der Schule. So erlebte auch Koch, wie sich ein Mitschüler über ihn lustig machte. Nach einem Gespräch mit Kochs Mutter ließ er davon ab. "Ich hatte extrem viel Glück", sagt Koch. Anders als einer seiner Podcast-Gesprächspartner, der wegen psychischer und körperlicher Probleme infolge von Mobbing widerwillig die Schule verließ und eine Ausbildung begann. Auch der Göttinger Neurologe Martin Sommer, Vorsitzender der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe, erinnert sich an schlimme Erlebnisse. "Meist hören die Probleme nach der Schule im Berufsleben auf", sagt Koch.

Das Stottern beruht auf einer Schwäche der Faserbahnen in der linken Gehirnhälfte, die die sprechrelevanten Zellen miteinander verbinden. "Die Verdrahtung ist nicht so gut", erklärt Martin Sommer, der Oberarzt an der Uni-Klinik Göttingen ist. Das Phänomen ist bis zu 80 Prozent genetisch bedingt. Auch bei Koch findet sich ein stotternder Verwandter – sein Vater. Die restlichen Anteile liegen noch im Dunkeln. Klar ist nur, dass sie nicht auf frühkindliche Erfahrungen wie Spracherziehung, familiäre Probleme oder Scheidungen der Eltern zurückzuführen sind. Das haben Zwillingsstudien ergeben. "Auch Traumata spielen da keine Rolle", sagt Evolutionspsychologe und Stotterforscher Harald Euler.

Die Stärke des Stotterns ist Euler zufolge abhängig von der Situation und deren Anforderungen: Besonders ausgeprägt ist die Störung beim Reden vor Gruppen und bei Konflikten. In der Kommunikation mit Vertrauten ist der Redefluss weniger gestört. "Das Gefühl der Sicherheit macht viel aus", sagt Euler. Etwa fünf Prozent aller Kinder stottern, aber nur ein Prozent tun das noch als Erwachsene, bei vielen erfolgt eine Spontanheilung. Diese Zahl könnte weiter reduziert werden, wenn Eltern rascher reagieren würden, betont Sommer. "Spätestens sechs bis zwölf Monate nach Auftreten der Redeflussstörung sollte eine Behandlung erfolgen."

Wie die Spontanheilung genau vor sich geht und warum sie bei Mädchen häufiger vorkommt als bei Jungen, ist ein Rätsel. Ebenso unklar ist, warum mehr Männer als Frauen stottern: Im Kindesalter kommen auf ein stotterndes Mädchen zwei stotternde Jungs; nach der Pubertät beträgt das Verhältnis sogar vier zu eins. "Das ist unsere Gretchenfrage", erklärt Sommer.

Stottern ist im Erwachsenenalter nicht heilbar. Es gibt aber zwei Therapien, um es einzudämmen. Eine zielt auf einen anderen Sprechmodus (Fluency Shaping) ab, bei dem die Anfangssilben bewusst langsam und sanft gesprochen werden. Die andere Therapie betrifft nicht den Redefluss selbst, sondern setzt in dem Augenblick an, in dem der Stotternde hängen bleibt. Dabei werden Praktiken gelehrt, wie man aus der Blockade rasch wieder herauskommt, etwa durch das Wiederholen des Wortes.

Koch hat viele Therapien hinter sich – ohne Verbesserungen. Trotz seines Podcasts setzt er in manchen Situationen auf Vermeidung. "Lieber gehe ich im Supermarkt x-mal durch die Gänge, um etwas Bestimmtes zu finden, anstatt zu fragen." Sommer beobachtet bei Stotterern eine gewisse Selbststigmatisierung. In der Selbsthilfe sind bedeutend weniger Menschen als bei anderen Störungen aktiv. "Wenn man nicht hinter dem Ofen hervorkommt und die Klappe aufreißt, ändert sich nichts." Viel sprechen helfe viel. Es gelte, das Sprechen zu trainieren, anstatt schweigend durchs Leben zu gehen. Von seiner Umwelt verlangt Sommer: "Bitte nicht Sätze weiterführen, Stotternde ausreden lassen und sich einfach Zeit für sie nehmen. "

Ressort: Gesundheit & Ernährung

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 22. Oktober 2020: PDF-Version herunterladen

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