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Es ist cool, eine Leseratte zu sein

Tamara Keller
  • Mi, 27. Mai 2020
    Literatur & Vorträge

Jüngere Literaturformate im Netz / ARD und ZDF bauen ab.

Betreibt einen Instagram-Account zu Literatur: Mona Ameziane  | Foto: ©WDR/Annika Fußwinkel
Betreibt einen Instagram-Account zu Literatur: Mona Ameziane Foto: ©WDR/Annika Fußwinkel
Ein Theater, das von einem Tag auf den anderen leer ist. Aber draußen vor den verschlossenen Türen stehen 23 000 Menschen, können nicht rein, wollen das sehen, was ihnen Tage, Wochen und Monate zuvor angeboten wurde: So ging es der Journalistin Mona Ameziane, als der Instagram-Account "stories.offiziell" Ende 2019 eingestellt wurde.

Dabei handelte es sich um ein Projekt des öffentlich-rechtlichen Jugend-Onlineangebots Funk. Zwölf Personen waren für den Account zuständig, der knapp anderthalb Jahre eine jüngere Zielgruppe mit Inhalten zur Literatur bespielte: Gespräche mit jungen Autorinnen und Autoren, das Buch fotografiert mit der entsprechenden Bewertung, Videos, in denen sich die Journalisten zum Buch passenden Abenteuern und Erfahrungen aussetzten: etwa ein Besuch bei einer Fußpflegerin, weil die Protagonistin von Katja Oskamps Buch "Marzahn, mon amour" genau diesen Job ausübt.

"An den Zahlen lag das überhaupt nicht", sagt Ameziane knapp sechs Monate später. Bis heute könne sie nicht nachvollziehen, warum der Account eingestellt wurde, obwohl er so gut bei seinem Publikum ankam. "Meiner Meinung nach war das ein öffentlich-rechtlicher Kanal, der dem Bildungsauftrag total entsprochen hat: weil wir junge Menschen zum Lesen gebracht haben, die kein Feuilleton dieses Landes erreicht."

Die 26-Jährige hat den Beweis vor ihren Augen, wenn sie in ihr elektronisches Postfach blickt: Hauptsächlich junge Menschen um die 20 schreiben Privatnachrichten wie "Meine Freundin hat nächste Woche Geburtstag, sie mag Krimis, aber mit einer Liebesgeschichte drin. Hast du Tipps?" Einmal bekam Ameziane ganz besondere Fanpost: Eine Followerin schickte ihr das Buch eines marokkanischen Autors, das sie empfohlen hatte, und bat sie, ihr etwas reinzuschreiben.

Im beiliegenden Brief schilderte die Followerin, dass sie nie gelesen habe. Ein Grund: Es sei nicht cool, eine Leseratte zu sein. Erst durch Ameziane und den funk-Instagram-Account habe sie Zugang gefunden. "Ich glaube, von diesem Image müssen wir wegkommen", sagt Ameziane. "Es ist nämlich total cool, eine Leseratte zu sein, auch wenn ich das Wort nicht mag. Ich bin es gern, wenn das das Wort ist, und kann trotzdem ein cooler und normaler Mensch sein."

Nach der Absetzung des des Funk-Formats entschloss sich die Journalistin und Moderatorin, die Buchempfehlungen auf ihrem privaten Account weiterzuführen. "Ich dachte, da kommen vielleicht 1000 Leute mit und war überzeugt, dass ich diesen Druck aushalte", sagt sie. Mittlerweile folgen ihr dort 14 700 Menschen.

Die Arbei auf "mona.ameziane" ist nicht dieselbe wie bei "stories.offiziell" – sie arbeitet weiterhin hauptsächlich als Moderatorin und Journalistin. Was auf ihrem Privataccount passiert, geschieht in Eigenregie in ihrer Freizeit und unentgeltlich. "Ich nehme keine Kooperationsanfragen an, weil ich mich nicht als klassische Buchbloggerin sehe", sagt Ameziane. "Ich bin an einer Schnittstelle zwischen Journalistin und Buchbloggerin und will mir meine Unabhängigkeit beibehalten." Die Arbeit, an der sie auch so viel Spaß hat, spiegelt sich vor allem an der Bildschirmzeit ihres Smartphones wider – sie ist dementsprechend hoch, sagt Ameziane und lacht. Die genaue Zahl möchte sie nicht verraten.

"Es geht wieder los: Zusammen lesen Runde drei", spricht Mona Ameziane direkt in die Kamera für Instagram. Seit der Pandemie hat sie ein neues Format gestartet: Die Follower dürfen zwischen zwei Büchern abstimmen, das mit den meisten Stimmen wird innerhalb von zwei Wochen – ähnlich wie bei einem Lesekreis – gelesen. Amezianes Account besteht zu zu 50 Prozent aus Büchern, die sie für ihre Sendung "Stories" bei Radio 1Live liest, wo sie jede Woche ein Nachwuchstalent der deutschen Literaturszene vorstellt. Die anderen 50 Prozent bestehen aus Büchern, über die sie beim Stöbern stolpert und die sie für lesenswert hält.

Dass Literatur zu ihrem Beruf wurde, war Zufall: "Ich weiß noch, in der ersten Klasse konnte ich es kaum erwarten, lesen zu können", sagt Ameziane. Wochenlang behandelte sie ihr erstes Buch wie eine Trophäe. Die Leselust verlor sich mit 16, "andere Dinge wurden in der Pubertät wichtiger". Mit Anfang 20 absolvierte sie im Rahmen ihres Journalistik-Studiums an der TU Dortmund ein Volontariat beim WDR und wurde kurz darauf gefragt, ob sie sich vorstellen könne, Lesungen zu moderieren. Sie konnte. "Ab da wurde das Lesen nicht nur zum Berufsmittelpunkt, sondern zum Freizeitmittelpunkt. Ich weiß selbst nicht, wann ich zuletzt eine ganze Staffel einer Serie angeschaut habe", so Ameziane.

Mitte Mai erschütterte die Literaturszene die Nachricht, dass der NDR sein "Bücherjournal" zum Jahresende nicht mehr senden will. Der Aufschrei in der Szene war groß. Mehrere bedeutende Autorinnen und Autoren schlossen sich zusammen und schrieben einen offenen Protestbrief, in dem sie sich darüber beschweren, dass sowohl in der ARD als auch beim ZDF Literaturformate immer weniger Platz fänden. "Es war wichtig, dass es den Aufschrei in der Buchszene gab", sagt Ameziane. "Zu einem anderen Zeitpunkt hätte es wahrscheinlich keine so große Protestwelle hervorgerufen. Aber gerade jetzt, wo im Literaturbetrieb so viele den Kopf über Wasser zu halten versuchen, war die Einstellung des Formats ein Schlag in die Magengrube."

Der NDR reagierte und kündigte eine Woche später an, man würde die Literatur im Programm nicht abschaffen. Sie solle in Zukunft noch sichtbarer werden – in neuen Online-Formaten, nicht im Fernsehen. Ob das Versprechen gehalten werden kann, bezweifelt Ameziane: "Wenn ich mir anschaue, was in den letzten Jahren passiert ist, war es so, dass mehr gestrichen wurde als hinzukam." Die Hoffnung, dass Literaturformate innovativer und nicht nur in der Nische platziert werden, hat sie trotzdem: "Es ist schade, wenn Literaturformate immer mehr verschwinden: egal ob im NDR, im ZDF oder auf Instagram. Bücher sind das mit am besten recherchierte Publikationsmedium. Da steckt total viel Arbeit drin, egal ob das ein Sachbuch ist, wo ich Fakten geliefert bekomme, oder ein Roman, der meinen Horizont erweitert. Bücher sind extrem wichtig."

INFO: Formate für Literatur


Fernsehen
: "Buchzeit" (3sat), "Das
literarische Quartett" (ZDF), "Druckfrisch" (ARD), "Buchtipps von Christine Westermann in FrauTV" (WDR), "Fröhlich lesen" (mdr), "Lesenswert" (SWR), "Lesenswert Quartett" (SWR), "Schweizer Literaturclub" (Wiederholung bei 3Sat), "Buchtipps bei ttt" (ARD), "Westart" (WDR), "aspekte" (ZDF)

Audio: "Diwan – Das Büchermagazin" (Bayern2), "radioTexte" (Bayern2), "radioTexte – Das offene Buch" (Bayern2), Bayern2-Favoriten, Verschiedene Podcasts bei hr2, "Unter Büchern" (MDR) plus diverse Podcasts zu Literatur und Kinder- und Jugendbuchempfehlungen, "Lesestoff" (rbb-Podcast), "Literaturagenten" (radioeins, rbb), "Bücher" (WDR5), "Buchtipps von Christine Westermann" (WDR2), "Buchkritik" (WDR3), "Buchtipps" (WDR 4), "1LIVE Stories" (WDR)

Digital: "Leipziger Buchmesse virtuell" (MDR), "Dein Buch" (ZDFKultur)

Ressort: Literatur & Vorträge

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mi, 27. Mai 2020: PDF-Version herunterladen

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