Account/Login

Die Verrohung der Welt ist vorangeschritten

  • Alexandra Seitz

  • Do, 22. Oktober 2015
    Kino

DRAMA: "Unser letzter Sommer" von Michal Rogalski erzählt eindrucksvoll von vier jungen Leuten im Polen des Jahres 1943.

Urszula Bogucka, Filip Piotrowicz   | Foto: Polka
Urszula Bogucka, Filip Piotrowicz Foto: Polka
Kleidungsstücke und Koffer entlang der Bahnstrecke zeugen von jenen, die zum Verschwinden gebracht werden. Wenn Heizer Romek mit seinem Zug an der Verladestation ankommt, sind die aus den Viehwaggons schon weg, weitertransportiert ins Lager, selektiert in Arbeit oder Gas. Wo genau diese Geschichte sich zuträgt, ist nicht festgelegt, und es ist auch egal. Irgendwo in Ostpolen an der Strecke zwischen Warschau und Treblinka im Sommer 1943; die Deutschen haben die Macht, ihre Soldaten das Sagen; es gibt einen Bahnhof, ein Dorf und ein Konzentrationslager, das man nicht sieht.

Das sich aber bemerkbar macht. Während der Pole Romek (Filip Piotrowicz) und sein Lokführer Leon mit den Zügen rangieren und das hinterbliebene Strandgut plündern, zieht der gleichaltrige Deutsche Guido (Jonas Nay) als Angehöriger der Sicherheitspolizei durch die Wälder, auf der Suche nach Entkommenen und Partisanen. Zwei 17-Jährige, die gerne nach den Mädchen schauen, die gerne Swing hören, die sich ihr Leben wohl ganz anders vorgestellt haben. Jedenfalls nicht so, wie es in diesem Sommer verläuft. Denn Guido verliebt sich in die junge Polin Franka (Urszula Bogucka), die im Gendarmerieposten als Küchenhilfe arbeitet, und Romek trifft im Wald auf die Jüdin Bunia (Maria Semotiuk), die auf der Flucht ist. Währenddessen zieht der neue Oberleutnant bei den Deutschen andere Saiten auf.

Figurenkonstellation und Handlungsgerüst von "Unser letzter Sommer", den Michal Rogalski nach eigenem Drehbuch als deutsch-polnische Koproduktion realisierte, muten geradezu schematisch an. Man glaubt zu wissen, was kommt, und das kommt dann auch. Und doch hat man das so noch nicht gesehen, den Verlust der Unschuld, das Ende der Hoffnung, auch: die Zurichtung zur Grausamkeit, die Vernichtung von Lebensfreude. All dies wird ersichtlich als Auswirkung der Ereignisse auf die vier jungen Menschen, es wird spürbar als Beschädigung, die sie ihr Leben lang begleiten wird. Es wird aber nicht plakativ in Szene gesetzt oder symbolhaft sichtbar gemacht.

Die Charaktere sind normal, das, was sie erleben, ist nicht alltäglich – und aus der daraus resultierenden Spannung bezieht der Film eine Dramatik, die zunächst nur subkutan wirksam wird, dann aber gnadenlos ins Tragische umschlägt. Mit ruhigem Inszenierungsstil präpariert Rogalski, unterstützt von der präzisen, unaufgeregten Arbeit seiner Schauspieler, den systemischen Sadismus und das destruktive Wesen des Naziregimes heraus. Eine Destruktivität, die alle erfasst und nicht nur die Vernichtung der Körper zum Ziel hat, sondern vor allem die Auslöschung der Seelen. Am Ende bleiben die leeren Hüllen zurück, beliebig ideologisch befüllbar, und die Verrohung der Welt ist vorangeschritten. Der Krieg wird den kleinen Ort einholen und der Holocaust nicht länger unsichtbar bleiben. Jugend kommt unter die Räder.

"Unser letzter Sommer" von Michal Rogalski: in Freiburg und Lörrach. (Ab 12)

Ressort: Kino

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 22. Oktober 2015: PDF-Version herunterladen

Artikel verlinken

Wenn Sie auf diesen Artikel von badische-zeitung.de verlinken möchten, können Sie einfach und kostenlos folgenden HTML-Code in Ihre Internetseite einbinden:

© 2024 Badische Zeitung. Keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben.
Bitte beachten Sie auch folgende Nutzungshinweise, die Datenschutzerklärung und das Impressum.

Kommentare


Weitere Artikel