Account/Login

Eine Gesellschaft im Fieber des Kapitalismus

Gerhard Midding

Von Gerhard Midding

Do, 28. Februar 2019

Kino

DRAMA:"Asche ist reines Weiß" von Jia Zhangke zeigt in einer Mischung aus Gangster- und Liebesfilm den rasanten Wandel in China.

Qiao  (Zhao Tao)   | Foto: neue Visionen
Qiao (Zhao Tao) Foto: neue Visionen
Qiao (Zhao Tao) hat sich ihren Rucksack vor den Bauch geschnürt. Er enthält die Habseligkeiten, die ihr geblieben sind, und er schützt sie wie ein Brustpanzer. Die Welt, durch die sie sich bewegt, mutete auf den ersten Blick nicht bedrohlich an, aber sie hat sich radikal gewandelt.

Fünf Jahre war Qiao im Gefängnis. So hoch ist in China das Strafmaß für illegalen Waffenbesitz. Nach ihrer Entlassung fährt sie mit dem Schiff auf dem Jangtse, durch die berühmten Drei Schluchten, die bald in einem gigantischen Staubecken verschwunden sein werden. Jedoch hat sie die Reise nicht als Touristin angetreten, sondern als eine Liebende, die ihren Mann wiederfinden will. Sie hofft, dass Bin (Liao Fan) in den fünf Jahren so loyal zu ihr gestanden hat wie sie zu ihm. Für ihn hat sie die Gefängnisstrafe auf sich genommen; nie wäre es ihr in den Sinn gekommen, ihren Geliebten zu verraten.

In der Zwischenzeit soll Bin ein erfolgreicher Unternehmer geworden sein. Er geht nicht ans Telefon und lässt sich verleugnen. Erst durch ein cleveres Manöver gelingt es ihr, ihn zur Rede zu stellen. Qiao ist reifer geworden, findiger und resoluter – nicht mehr die kapriziöse Gangsterbraut, als die wir sie zu Beginn des Films kennenlernten. Seinerzeit, in ihrer Heimat in der Provinz Shanxi, waren sie ein stadtbekanntes Paar.

"Asche ist reines Weiß" ist ein merkwürdiger, ein zögerlicher Gangsterfilm: Er zeigt die Verbrecher vor allem beim Glücksspiel, in Besprechungen und der Beziehungspflege mit der örtlichen Polizei. Qiao und Bin genießen die Vorzüge eines Lebensstils, welcher der sozialen Misere in der Region spottet, die einst ein Zentrum des Bergbaus war. Aber unversehens werden sie von einer rivalisierenden Bande angegriffen. Die Pistole, die bis dahin als nutzloses Statussymbol zirkulierte, spielt plötzlich eine verhängnisvolle Rolle.

Der Film bindet die Liebesgeschichte zwischen Qiao und Bin ein in den rasanten Wandel Chinas. Das Treiben der Gangster ist eingangs noch in ländlichen Strukturen aufgehoben. Fünf Jahre später ist das Land endgültig vom Fieber des Kapitalismus ergriffen. Regisseur Jia Zhangke interessiert sich weniger für die Ereignisse – so vergeht die Haftstrafe in wenigen Filmminuten – oder für die Reaktionen seiner Charaktere. Sogar die ersten Blicke und Worte nach der Wiederbegegnung des einstigen Paares spart er aus. Seine Schaulust wartet das Danach ab.

Die klaffenden Lücken in der Erzählung markieren nicht nur Brüche in der privaten Geschichte. Sie werfen Schlaglichter auf eine gesellschaftliche Entwicklung, welche die Figuren nicht in Etappen nachvollziehen, sondern mit deren Konsequenzen sie brüsk konfrontiert werden. Jia Zhangkes Film zieht eine Zwischenbilanz des eigenen Werks, in dem sich die Suchbewegungen der chinesischen Gesellschaft widerspiegeln. Die Jangtse-Sequenz verweist auf "Still Life" von 2006, sogar das kuriose Motiv des Ufos greift er wieder auf: Auch Qiao wird Zeugin einer Art kosmischer Intervention, die sie fasziniert und die ihr einen neuen Weg weisen könnte.

"Asche ist reines Weiß" (Regie: Jia Zhangke) läuft in Freiburg. Ab 12.

Ressort: Kino

  • Veröffentlicht in der gedruckten Ausgabe der BZ vom Do, 28. Februar 2019:
  • Zeitungsartikel im Zeitungslayout: PDF-Version herunterladen

Artikel verlinken

Wenn Sie auf diesen Artikel von badische-zeitung.de verlinken möchten, können Sie einfach und kostenlos folgenden HTML-Code in Ihre Internetseite einbinden:

© 2024 Badische Zeitung. Keine Gewähr für die Richtigkeit der Angaben.
Bitte beachten Sie auch folgende Nutzungshinweise, die Datenschutzerklärung und das Impressum.

Kommentare


Weitere Artikel