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"Es gab ein großes Bedürfnis nach Rache"

  • Fr, 08. Mai 2015
    Literatur & Vorträge

BZ-INTERVIEW:Ian Buruma über die Menschen, die am 8. Mai 1945 das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebten.

Ian Buruma  | Foto: Michael Childers
Ian Buruma Foto: Michael Childers

Es war eine Zeit des Zusammenbruchs und des Neuanfangs, eine Zeit, in der viele Menschen ein neues Leben begannen, während andere das ihre verloren. Ian Buruma hat ein Buch geschrieben, welches das Jahr 1945 schildert. Mit ihm sprach Thomas Steiner.

BZ: Herr Buruma, zum 8. Mai 1945 gibt es ein in Deutschland berühmtes Wort des verstorbenen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker. Er hat ihn als "Tag der Befreiung" von der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bezeichnet. Was ist Ihr Eindruck, haben 1945 die Deutschen den 8. Mai auch als Befreiung empfunden – oder als Niederlage?
Buruma: Wahrscheinlich war es beides. Eine Befreiung, weil es eine schreckliche Zeit damals war für die meisten Deutschen, mit den Bombenangriffen, mit der SS, die Defätisten oder vermeintliche Defätisten an Laternenpfählen aufhängte. In der westlichen Hälfte Deutschlands war es eine Befreiung für die vielen Soldaten, die sich den westlichen Truppen ergaben. Keine Befreiung war es für die Soldaten im Osten, die sich der Roten Armee ergaben. Es hing also ganz davon ab, wo man gerade war.
BZ: In Asien war der Krieg am 8. Mai noch nicht zu Ende, aber auch in Teilen Europas gab es noch Kämpfe. Wieso hier auch?
Buruma: Wir sehen das ja heute im Nahen Osten: Krieg und Besetzung verschärfen schon existierende Gegensätze, ethnische, politische, religiöse. Besatzungsregimes nutzen diese Konflikte bewusst aus. Wenn dann der Krieg vorbei ist, folgt oft ein Bürgerkrieg. In Europa gab es einen in Griechenland zwischen den Kommunisten und den Konservativen, in Italien hätte es auch soweit kommen können, genauso in Frankreich oder in Belgien.
BZ: Das Jahr 1945 kostete nach dem 8. Mai noch vielen Menschen das Leben. So haben die britischen Besatzer in Österreich kroatische Flüchtlinge an Tito und Kosaken an Stalin ausgeliefert, die auf der Stelle erschossen wurden oder in Todeslager kamen. Wie viele Opfer gab es noch nach dem Krieg?
Buruma: Ich habe da keine genaue Zahl. In der Sowjetunion waren es sicherlich Hunderttausende, die im Gulag endeten. BZ: Wann ist der Zweite Weltkrieg endgültig zu Ende gegangen?
Buruma: Was heißt zu Ende gegangen? Offiziell endete er 1945. Aber man kann auch sagen: Der Krieg ist erklärt worden, um Polen vor den Deutschen zu schützen, also ging er erst zu Ende, als Polen 1989 ein unabhängiges Land wurde, und mit ihm die anderen Länder Osteuropas.
BZ: In vielen Ländern ist der Zweite Weltkrieg heute noch präsent. Wie ist das in Ihrer Heimat, den Niederlanden?
Buruma: Da ist er sehr präsent. Erstens, weil er das Dramatischste war, was hier seit Napoleon passiert ist. Und zweitens, weil er dazu dient, eine nationale Identität herzustellen. So wie es auch in Russland ist, das nach dem Ende der Sowjetunion um eine nationale Identität kämpft. Der Sieg im Zweiten Weltkrieg hilft den Russen dabei. Die Niederlande waren nie so einig, wie die Leute glauben, es gab immer einen Gegensatz zwischen den katholischen und den protestantischen Niederlanden. Die Monarchie ist nicht mehr so stark, wie sie einmal war. Deshalb ist die gemeinsame Erfahrung des Krieges so wichtig – auch wenn sie für junge Leute nur noch Geschichte ist oder ein Mythos. Aber es ist ein nationaler Mythos und wird als solcher auch eingesetzt.
BZ: So hat der Zweite Weltkrieg auch Positives nach sich gezogen?
Buruma: Vielleicht sogar mehrere positive Dinge. Zum Beispiel hat er den Wert der Freiheit deutlich gemacht, und dass man manchmal dafür kämpfen muss.
BZ: Sie beginnen Ihr Buch allerdings nicht mit menschlichen Werten, sondern mit Trieben. Was ist der Grund?
Buruma: Ein Satz, den ich auch im Buch zitiere, hat mich sehr getroffen. Es war eine der Personen, vielleicht vom Roten Kreuz, die den Überlebenden aus den Lagern, den Displaced Persons, helfen wollten. Drei Dinge fielen ihr am meisten auf an diesen Menschen: "Rache, Hunger und Jubel". Diese drei Eigenschaften der Überlebenden wollte ich zeigen, ehe ich in die mehr praktischen und politischen Dinge einsteige.
BZ: Hat Sie die Macht dieser Triebe überrascht?
Buruma: Was mich am meisten erstaunt hat, war das Ausmaß des Bedürfnisses nach Rache – Rache an Kollaborateuren in Frankreich, Rache der Osteuropäer an den Deutschen in Schlesien und im Sudetenland, Rache der Malaien an der chinesischen Minderheit, die sich zuvor für die Unterdrückung durch die japanischen Besatzer und die Kollaborateure in Malaya gerächt hatten.
BZ: Hat Sie auch die große Rolle der Sexualität – zwischen einheimischen Frauen und den US-Soldaten, aber auch und gerade unter den KZ-Überlebenden, überrascht?
Buruma: Im Wesentlichen wusste ich das, was im Buch steht, schon vorher. Aber viele der Details, der Beschreibungen, die ich gefunden habe, haben mich überrascht.
BZ: Ihr Buch ist durch die vielen zeitgenössischen Quellen, die Sie zitieren, sehr lebendig. Wo haben Sie die gefunden?
Buruma: Ich hatte das Glück, ein Fellowship der New York Public Library zu bekommen. Ein Jahr hatte ich dort ein Büro und Zugang zu jedem Buch, das ich haben wollte und dessen Sprache ich verstand.
BZ: Ihr Buch erzählt eine starke Geschichte, nicht nur über das Jahr 1945, sondern auch über den Menschen und die Gesellschaft.
Buruma: Ich hoffe es.
BZ: Was war das Hoffnungsvollste, dem Sie beim Schreiben begegnet sind?
Buruma: Der Idealismus, eine bessere und gerechtere Welt zu schaffen. Das bemerkenswerteste Symbol dafür war die Niederlage von Winston Churchill bei der Parlamentswahl in Großbritannien im Juli 1945. Es war nicht so, dass die Menschen den Kriegspremier nicht mehr bewunderten, aber sie wollten eine andere Gesellschaft als die britische Klassengesellschaft.
BZ: Wie viele Menschen teilten diesen Idealismus?
Buruma: Ich glaube viele und gerade einfache Leute. Sie wollten das nicht noch einmal erleben, was sie gerade durchgemacht hatten.

– Ian Buruma (63) ist Sohn eines niederländischen Vaters, der von den Deutschen 1943 als Zwangsarbeiter deportiert wurde, und einer englischen Mutter. Er hat Bücher etwa über Japans Kultur und den Mord an Theo van Gogh geschrieben, seit 2003 lehrt er am Bard College in New York.

Ressort: Literatur & Vorträge

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