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BZ-Gastbeitrag

Höchste Zeit, mal wieder über die Würde des Menschen nachzudenken

Klaus Leisinger

Von

Fr, 11. Mai 2018 um 23:00 Uhr

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Die UN-Menschenrechtscharta wird 70, das Grundgesetz bald auch – höchste Zeit, wieder einmal über die Würde des Menschen nachzudenken.

Ein Arbeiter trägt in Dhaka, Bangladesch, Jeanshosen  aus einer Textilfabrik.   | Foto: dpa
Ein Arbeiter trägt in Dhaka, Bangladesch, Jeanshosen aus einer Textilfabrik. Foto: dpa
Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Diese ersten Sätze des deutschen Grundgesetzes stammen von Männern und Frauen, die schreckliche Bilder geschundener Menschen im Gedächtnis trugen – Bilder vom Terror des menschenverachtenden Naziregimes. Nie wieder, so die Vision der Autoren des Grundgesetzes, sollen Menschen auf so schreckliche Weise entwürdigt werden.

Auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 – ebenfalls geschrieben nach der Erfahrung der im Zweiten Weltkrieg verübten Gräuel – geht in der Präambel und in Artikel 1 auf die Würde des Menschen ein: Sie sei "angeboren" und ihre Anerkennung die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Durch Eleanor Roosevelt, der Witwe des kurz vor Kriegsende verstorbenen US-Präsidenten, kam ein bemerkenswertes Menschenbild in diese Erklärung: Menschen sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Geschwisterlichkeit begegnen.

Die UNO-Menschenrechtserklärung wird dieses Jahr 70 Jahre alt, die Verfassung Deutschlands feiert im nächsten Jahr ihren siebzigsten Geburtstag – Zeit, wieder einmal über die Würde des Menschen nachzudenken.

Welche Bilder kommen einem heute in den Sinn, wenn man über die Würde der Menschen nachdenkt? Es sind, Gott sei Dank, keine Bilder aus Konzentrationslagern in Deutschland mehr. Wer allerdings die Bilder ertrunkener Armutsflüchtlinge im Mittelmeer, die Gesichter der Rohingya-Kinder in bengalischen Lagern oder die ausgemergelten Körper hungernder Kinder im Jemen gesehen hat, weiß, dass die Welt nicht in dem Sinne in Ordnung ist. Auch leidende und geschundene Menschen haben Würde und ein Recht auf deren Schutz, weil sie Menschen sind.

Zeitverlust durch Nichthandeln macht jede Lösung schwerer
Was kann man tun? Zunächst einmal Ursachen und Verantwortliche beim Namen nennen: Die Würde der großen Anzahl der entrechteten, geschundenen und ausgebeuteten Menschen wird durch gewalttätige einheimische Despoten und gewissenlose Politiker, korrupte Bürokraten, eine undisziplinierte, aber schwer bewaffnete Soldateska sowie durch skrupellose Warlords verletzt.

Zum Mangel an Würde der internationalen Gemeinschaft gehört, dass sich nicht einmal der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen in der Lage sieht, die schlimmsten Zustände und die Haupttäter beim Namen zu nennen, weil politische Rücksichten und Klientelbeziehungen dies verhindern. Wer aber die eklatanten Mängel bei der Regierungsqualität und die offensichtlichen Mängel an personaler Verantwortungsethik in den Machtzentren vieler Länder nicht benennt, spielt denen in die Hände, denen die Fortsetzung des schändlichen Status quo ökonomisch und machtpolitisch nützt.

Auch bei uns und in anderen reichen Ländern wird die Würde von Menschen verletzt. Manche Menschen verletzen ihre eigene Würde, indem sie in Dschungelcamps, im Big-Brother-Container oder nackt bei Adam sucht Eva mitmachen. Andere stellen in Massenmedien Körperteile zur Schau, derer man früher nur in Anatomielexika ansichtig wurde. Schlimmer jedoch ist, dass vieles von dem, was heute die Würde von Millionen Menschen verletzt, (auch) mit unserem als "normal" angesehenen Lebensstil zu tun hat, der anderswo jedoch zu Elend, Frustration und Stagnation beiträgt und dadurch letztlich auch zu Migrationsbewegungen.

Die überwiegende Anzahl der Wissenschaftler ist heute davon überzeugt, dass sich das Klima verändert, an überlebenswichtigen Ressourcen Raubbau betrieben wird und wachsende soziale Ungleichheiten zu Spannungen und Verteilungskämpfen führen. Politische und soziale Spannungen nehmen weltweit zu und machen demokratisch mitbestimmte Veränderungen schwieriger denn je. Ökologische Erosion und soziale Ausgrenzung verletzen die Würde der betroffenen Menschen.

Zugegeben, alle im Kontext der Nachhaltigkeit relevanten Einzelprobleme sind komplex und haben verschiedene Ursachen. Ihre Beurteilung ist daher abhängig von individuellen Erfahrungen und Werturteilen. Die Existenz der Gesamtproblematik ist jedoch nicht mehr bestreitbar. Dauern die heutigen Trends an, so verschärfen sich die Probleme, und die Anzahl der betroffenen Menschen steigt. Zeitverlust durch Nichthandeln macht jede Art von Lösungen schwerer und teurer.

Nicht nur politische Institutionen, sondern wir alle können einen Beitrag zur Schonung des Naturkapitals, des Sozialkapitals und dadurch zur Wahrung der Würde hunderter Millionen von Menschen leisten. Ernst Ulrich von Weizsäcker und seine Kollegen vom Club of Rome zeigen in ihrem gerade erschienenen, höchst lesenswerten Buch "Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen" mit vielen Beispielen auf, was von mutigen Menschen und Institutionen schon heute gemacht wird. Es zeigt auch überzeugend auf, warum "wir" in den reichen Ländern "dran" sind, etwas zu tun.

Die Frage "Was kann ich alleine angesichts der Dimension der bestehenden Probleme schon machen?" hat vor fast 70 Jahren Karl Jaspers schlüssig beantwortet. Er kam er zum Schluss, dass – auch wenn der Einzelne ohnmächtig erscheint – jeder Mensch seinen auch noch so begrenzten individuellen Beitrag zum "großen Ganzen" leisten kann. Und er soll ihn auch leisten, weil es wichtig ist. Es sei, so Karl Jaspers, wie bei Wahlen, von denen zwar jeder sagen kann, "dass, wenn er nicht wähle, das Wahlresultat sich nicht ändere, er aber doch wählt, weil er weiß, dass alle Einzelnen zusammen das Ergebnis bringen, so ist die sittliche Kraft des scheinbar verschwindenden Einzelnen die einzige Substanz und der wirkliche Faktor für das, was aus dem Menschsein wird."

In Jaspers Worten klingt das gewichtig – in der täglichen Praxis ist es dies jedoch meist nicht. Die Wahrung der Würde fängt mit ganz einfachen Handlungs- und Verhaltensweisen an – dazu zwei Beispiele:

» Menschenwürdiger, freundlicher Umgang auch mit denjenigen in unserer Gesellschaft, die in ihrem Leben unverschuldetes Unglück, tragische Ereignisse, Krankheit oder anderes erlitten haben und dadurch in einer elenden Lage sind, aus der sie allein nicht mehr herauskommen. Vielleicht ist es für den Normalbürger zu viel verlangt, in einem Bettler, Drogenabhängigen, einer Zwangsprostituierten oder einem "inoffiziellen" Flüchtling im Sinne des Lukas-Evangeliums einen "Nächsten" zu sehen. Nicht zu viel verlangt ist das Unterlassen blöder Sprüche sowie herablassenden Verhaltens. Es kostet nichts, auch zu Menschen freundlich zu sein, denen es schlecht geht.

Beim Einkaufen nachdenken über den "sozialen Rucksack" und den "ökologischen Fußabdruck" und nicht nur über den Preis. Niedrige Preise, etwa bei Textilien, werden durch Hungerlöhne in Bangladesch, Indien oder Vietnam möglich. Aber auch Hochpreisprodukte sind keine Garantie für faire Löhne: Nach einem Bericht der Süddeutschen Zeitung betragen die Lohnkosten für ein iPhone weniger als fünf Prozent des Endpreises. Eine Bloomberg-Studie hält fest, dass für die Herstellungskosten (inklusive Produktionssicherheit und Löhnen) von Jeans, die für 22 US Dollar verkauft werden, lediglich 90 Cents anfallen.

Handlungsweisen, welche die Würde anderer Menschen achten, sind praktizierte Fairness. Fair zu handeln, ob in der Familie, in der Nachbarschaft, im Beruf oder für globale Ziele, ist kein "Mitleid". Mitleid ist zwar eine noble menschliche Regung, aber kein tragfähiges Fundament für die Wahrung der Würde anderer.

Die Motivation für faires, die Würde anderer Menschen achtendes Handeln ist prinzipieller Natur. Die Wahrung der eigenen Würde ist für aufgeklärte Menschen unvereinbar mit der Missachtung der Würde anderer, seien sie Bettler in unserer Fußgängerzone, Näherinnen in Bangladesch oder Kindersklaven auf Kakaoplantagen in Westafrika.

Die Wahrung der Würde anderer Menschen ist auch keine gute Tat, die man sich von Zeit zu Zeit leistet, wenn man gut drauf ist. Nein, solches Handeln ist die Wahrung wohlverstandener Eigeninteressen. Es gibt langfristig in einem Ozean des Elends keine Insel der Glückseligen. Menschenwürde verletzendes Handeln resultiert nicht nur in der Erniedrigung individueller Persönlichkeiten – kumuliert führt solches Handeln zu schlechteren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und weniger Sicherheit.

Es gibt keine Insel des Glücks

in einem Ozean des Elends
Was wir heute an Armuts- und Konfliktmigration beklagen, wird einmal die "gute alte Zeit" gewesen sein: Schätzungen der UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR beliefen sich Ende 2016 auf etwa 65 Millionen Menschen. Die Hälfte der Flüchtlinge sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren; die meisten fliehen nicht nach Europa, sondern in Nachbarländer. Aber die Zahl derjenigen, die als letzte Hoffnung für ein menschenwürdiges Leben nach Europa kommen wollen, wird steigen.

Weil das so ist, ist die Anerkennung der Tatsachen notwendig, dass erstens nicht alle Menschen, die nach Europa wollen, das gleiche Recht auf Schutz und staatliche Unterstützung bei uns haben. Und zweitens ist für einen nachhaltig menschenwürdigen Umgang mit Zuwanderern eine Differenzierung erforderlich: In Asylsuchende, Flüchtlinge nach der Genfer Konvention, Kriegsflüchtlinge, denen, so lange der Krieg andauert, Schutz gewährt werden muss. Und schließlich Menschen, die aus individuell verständlichen Gründen eine lebenswerte Zukunftsperspektive bei uns suchen, aber keinen Anspruch auf Leistungen bei uns haben.

Dass gemäß dieser Differenzierung dann auch konsequent gehandelt werden muss, widerspricht nicht dem Gebot der Wahrung der Menschenwürde – im Gegenteil, sie ist die Voraussetzung dafür, dass auf Dauer Ressourcen bereitgestellt werden, die für einen menschenwürdigen Umgang mit Zuwanderern erforderlich sind.

Die Achtung und Wahrung der Würde von Menschen ist nicht nur Ausdruck unserer eigenen persönlichen Würde – sie wirkt auf lange Frist auch Armut und Verteilungskonflikten und somit den Fluchtursachen entgegen.

Klaus Leisinger (71) ist Sozialwissenschaftler und Ökonom, gebürtiger Lörracher sowie Begründer und Präsident der Stiftung Globale Werte Allianz. Bis 2013 war er Präsident der Novartis-Stiftung.

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