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27./28. April

Poetry-Slam: Freiburg ruft zur literarischen Landesmeisterschaft

Sina Gesell

Von Sina Gesell

Mo, 16. April 2012 um 10:10 Uhr

Literatur

Vom Hassobjekt zur Talentschmiede: Das literarische Format Poetry-Slam hat sich in Deutschland etabliert. Ende April findet in Freiburg die Baden-Württemberg-Meisterschaft statt.

„Grenzgänger-Slam“ in Basel mit Siegerin Theresa Hahl Foto: Max Schuler
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Worte fliegen durch die Luft, reihen sich zu Sätzen, mal komisch, mal ernst, mal gut, mal schlecht. Gelächter, Lauschen oder Schweigen dringt aus dem Publikum. Einige Zuschauer haben ein Bier vor sich stehen, lehnen sich in ihrem Stuhl zurück. Andere sitzen auf dem Boden oder stehen, den Blick zur Bühne gewandt, an der Bar. Es ist eine entspannte Atmosphäre im Café Atlantik in Freiburg, wo einmal im Monat ein Poetry-Slam stattfindet. Wie viele ist auch dieser Stunden zuvor ausverkauft. Doch so beliebt war der Dichterwettstreit nicht immer.

"Wir waren das Hassobjekt der Feuilletons." Wolfgang Hogekamp
"Wir waren das Hassobjekt der Feuilletons", sagt Wolfgang Hogekamp, der seit den Anfängen in Deutschland dabei ist. 1994 organisierte er erstmals einen Slam in Berlin, aus dem die älteste Poetry-Slam-Reihe im deutschsprachigen Raum entstand. Damals oft belächelt, seien nur "Nerds und Germanistikstudenten" zu den Veranstaltungen gekommen; mittlerweile würden Leute aus allen Schichten der Gesellschaft zum Publikum zählen. Björn Högsdal sieht diese Entwicklung – aus Poetensicht – ähnlich: "Slam war früher eher ein Makel, wenn man im Kulturbereich etwas machen wollte", sagt er. Vor zehn Jahren gründete Högsdal in Kiel die Agentur Assemble Art, mit der er unter anderem Poetry-Slams veranstaltet. "Inzwischen ist das Format ein großes Sprungbrett geworden", sagt der Poet. Viele Slammer, darunter Sebastian 23, der auch den Dichterwettstreit im Café Atlantik veranstaltet, sind über die Szene hinaus bekannt geworden. Der Bochumer ist längst mehr als ein Slampoet, er schreibt Bücher, tourt mit Soloprogrammen durch Deutschland, gibt Workshops und organisiert und moderiert selbst Slams wie die Baden-Württemberg-Meisterschaften im April in Freiburg.

Die Idee kommt aus den USA

Seinen Ursprung hat das literarische Format in Chicago. Dort veranstaltete der Performance-Poet Marc Kelly Smith 1986 den ersten Poetry-Slam und schuf so eine Plattform für Außenseiter und ethnische Minderheiten, wie die Literaturwissenschaftlerin Stefanie Westermayr in ihrem Buch "Poetry Slam in Deutschland" (Tectum Verlag, Marburg 2010) schreibt. "Der ursprüngliche Slam wollte nicht bürgerlich sein", sagt die Autorin. Die deutschen Slammer hingegen kämen vor allem aus der bürgerlichen Mittelschicht. So politisch wie in den USA ist der Slam hierzulande nicht. Zwar tragen hin und wieder auch deutsche Slammer einen Text vor, der eine politische Botschaft hat; doch meistens geht es um Alltagsgeschichten und persönliche Erfahrungen der Poeten. In Freiburg scheinen vor allem die komischen Texte, seien es die von Andy Strauß oder von Max Kennel, anzukommen.

Dass aber auch ernste oder gar traurige Texte mittlerweile gewinnen können, beweist Theresa Hahl, die sich beim letzten "Grenzgänger-Slam" im Kulturpavillon Basel zusammen mit einem Slammer-Kollegen den ersten Platz teilte. Die Marburger Poetin wirft mit Sätzen wie "Mein Herz ist eine kleine Hure" um sich und schafft es, das Publikum allein mit ihren Worten und ihrer Präsenz zu fesseln. Denn Hilfsmittel wie Musik oder Kostüme dürfen die Poeten nicht verwenden. Sie haben nur ihre Sprache und fünf Minuten Zeit, um das Publikum zu überzeugen. Für Theresa Hahl reicht das. Nach ihrem Auftritt meint man, ein kollektives Schlucken ob der schweren Worte zu vernehmen, bis das Publikum lautstark applaudiert. Eine Jury, die zuvor willkürlich aus dem Publikum bestimmt wurde, hält Tafeln in die Höhe. Eine große "9" oder gar eine "10" steht darauf. Während das Publikum in der Vorrunde nur seine Zustimmung oder seinen Unmut über die Jury-Bewertung ausdrücken darf, bestimmt es im Finale den Gewinner durch Applaus. Doch so ausgelassen wie in Freiburg ist die Stimmung beim Basler "Grenzgänger-Slam" nicht. Die Stühle – mit Namensschildern versehen – stehen akkurat in einer Reihe, die Besucher werden einzeln zu ihren Plätzen geleitet. Fast ein wenig spießig wirkt das Ambiente, in jedem Fall zu spießig für einen Poetry-Slam. Und das ist das Letzte, was der Slam je sein wollte. Auch wenn sich das Format mittlerweile in andere, gar klassische Bereiche ausweitet.

Wettstreit: Poeten gegen Literaten aus vergangenen Zeiten

So moderierte Björn Högsdal zuletzt ein Klassikkonzert des SWR-Sinfonieorchesters in Freiburg und slammte zwischen den Stücken. "Ich musste mich auf einen völlig neuen Schlag Menschen einstellen", sagt der 37-jährige Slampoet. In der Pause verließen ein paar Zuschauer das Konzerthaus. "Der Großteil der Reaktionen war sehr gut, aber es wäre gelogen zu behaupten, dass alle begeistert waren." Auch einige Orchestermusiker hätten sich gefragt, was "der Quatsch" soll. Ganz ausgereift ist das Konzept noch nicht. Die Slam-Moderationen sind nicht auf die Stücke abgestimmt, Högsdals Part und der des Orchesters wirken wie zwei separierte Blöcke.

Der Kieler Slammer probiert auch andere Spielarten des Formats aus. Neben Jazz-Slams, bei denen eine Jazzband Poeten improvisierend begleitet, veranstaltet er Zeichen-Slams. Hier lesen Poeten, während Zeichner die vorgetragenen Texte illustrieren. Eine mittlerweile gängige Form sind "Dead or Alive"-Slams, die unter anderem im Lörracher Burghof stattfinden. Bei diesen Slams treten Poeten gegen Literaten aus vergangenen Zeiten an.

"Der eigentliche Poetry-Slam ist aber immer noch als Format tragend genug, weil er sich ständig verjüngt und dadurch spannend bleibt", sagt Högsdal. Ausverkauft hätte sich der klassische Poetenwettstreit längst nicht. "Die Wahrnehmung hat sich zwar ständig gesteigert, aber eine Kommerzialisierung des Slams ist nicht eingetreten. Die Künstler achten auf die Integrität des Formats", sagt der Poet. Stefanie Westermayr, die seit 14 Jahren wissenschaftlich das Phänomen Poetry-Slam erforscht, stellt hingegen eine Kommerzialisierung fest, sei es durch Merchandising oder zunehmender Honorarforderungen einiger Slammer: "Parallel zum steigenden Interesse wird auch der kommerzielle Aspekt deutlicher – und bedeutender für das ganze Universum des Poetry-Slams", schreibt sie in ihrem Buch. Von vielen würde diese Entwicklung zwar verteufelt, doch habe sie vielen Slammern auch geholfen. Aus den Feuilletons ist das einstige Hassobjekt heute nicht mehr wegzudenken und auch ins Fernsehen hat der Slam längst Einzug gehalten. Vor allem die öffentlich-rechtlichen Sender wie der WDR, Arte, 3sat oder der Kultursender des ZDF widmen sich dem literarischen Format. Trotz der steigenden Popularität wird sich der Poetry-Slam wohl auch in Zukunft nicht zum Massenphänomen wandeln. "Poetry-Slam ist bekannter geworden, aber er wird immer ein subkulturelles Format bleiben", sagt Hogekamp. Westermayr sieht das ähnlich: "Er ist noch kein Massenerfolg, wird es vielleicht auch nie werden, möchte es vielleicht auch nicht."

Von Konkurrenzdenken ist kaum etwas zu spüren

Die Entwicklung des Poetry-Slams wird oft mit der des HipHop verglichen, der den Dichterwettstreit stark beeinflusste. Während sich um Rapper ein großer Personenkult entwickelte, ist es beim Poetry-Slam doch eher die Szene, die Aufmerksamkeit erregt. Der Großteil der Slammer scheint auf dem Boden geblieben zu sein. Auch von Konkurrenzdenken ist kaum etwas zu spüren. Im Café Atlantik sitzen die Slammer am "Poeten-Tisch" und bejubeln sich gegenseitig. Es scheint, als kenne hier jeder jeden. "Wir sind mittlerweile so gut vernetzt, dass sogar die Amerikaner die deutschsprachige Szene mit Deutschland, Österreich und der Schweiz für die beste und größte der Welt halten", sagt Högsdal.

Welche Dimensionen der Slam angenommen hat, zeigen vor allem die Zahlen der deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften. 1997 veranstaltet Wolfgang Hogekamp die erste Meisterschaft, Bas Böttcher wird erster Poetry-Slam-Meister. Rund 200 Zuschauer sollen nach Veranstalterangaben an den zwei Tagen in Berlin gewesen sein. Seitdem finden jährlich Meisterschaften statt, Austragungsort des mittlerweile fünftägigen Festivals im vergangenen Jahr war die Hamburger O2-Arena. Der Veranstalter beziffert die Besucherzahlen auf 14 500. Ende dieses Jahres werden die Meisterschaften in Mannheim und Heidelberg ausgetragen.

Doch zuvor müssen sich die Künstler in regionalen Slams qualifizieren – wie beim Baden-Württemberg-Slam, darunter Maria-Xenia Hardt. Auf Anhieb gewann sie ihren ersten Slam vor eineinhalb Jahren, der auch ihr bester gewesen sei: "Wenn man zum ersten Mal vom Drei-Meter-Brett springt, wird es danach auch nie wieder so gut", sagt die Freiburger Studentin. Sie versteht es, komische Texte zu schreiben, die aber doch meist einen tiefgründigen Kern haben. Mittlerweile moderiert die 21-Jährige auch den einmal im Monat stattfindenden Poetry-Slam im Freiburger Ruefetto. Damit hat die Stadt Anfang des Jahres – neben dem im Café Atlantik – ihren zweiten Slam bekommen. Auch U-20-Slams gibt es in Freiburg immer öfter. Der Poetry-Slam gewinnt nicht nur in Städten wie Berlin oder Hamburg an Popularität.

Vom Slammen leben kann kein Poet

Aber woher kommt diese Faszination am Spoken Word? Für den Berliner Hogekamp, der seit nun fast zwei Jahrzehnten Dichterwettkämpfe veranstaltet, ist das eindeutig: "Jeder Slam ist anders und so oft es Texte geben kann, die langweilig sind, so oft gibt es auch Texte, die einen völlig faszinieren." Sebastian 23 glaubt gar, dass die Leute so ihre Begeisterung für Literatur entdecken oder wiederbeleben könnten. Doch auch der Bochumer Slampoet muss den ein oder anderen schlechten Text ertragen. Bei seinem zehnjährigen Jubiläum im Café Atlantik im März will nicht so richtig Stimmung aufkommen, die Texte der Slammer sind eher zäh. Nur Björn Högsdal, der nach seiner Moderation des Klassikkonzerts im Café Atlantik antritt, rettet mit seinen Texten wie "Disstrack gegen meinen Sohn" den Dichterwettstreit. Högsdal gewinnt und bekommt eine Flasche Whiskey.

Vom Slammen allein kann keiner der Poeten leben. Meistens werden ihnen nur die Anfahrt und eine Übernachtung gezahlt, bei größeren Veranstaltungen gibt es eine kleine Gage. "Der Slam ist eine Schmiede, man kann sich ausprobieren", sagt Björn Högsdal. Ein Großteil der Slammer sucht sich andere Einkommensquellen: Der in Berlin lebende Mischa-Sarim Vérollet veröffentlicht mittlerweile Bücher bei Carlsen, Tilman Birr hat sich als Kabarettist einen Namen gemacht, der Schweizer Slampoet Laurin Buser, der den "Grenzgänger-Slam" in Basel moderiert, versucht, in der Musik Fuß zu fassen. Der U-20-Meister von 2007 arbeitet gerade an einem Album. Aber auch in der Kleinkunst will er vorankommen, sein zweites Soloprogramm heißt "Earthshaking". "Der Slam ist Taschengeld", sagt der 20-Jährige.

"Sich zufriedengeben ist kein Synonym für Zufriedenheit." Mit diesen Worten endet Theresa Hahls Gewinnertext in Basel. Zufriedengegeben hat sich auch der Poetry-Slam nicht; vielmehr hat er es geschafft, sich vom belächelten Format zu einem ernstzunehmenden Kulturphänomen zu wandeln.

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Termine
Baden-Württemberg-Meisterschaft 2012 in Freiburg: Vorrunden im Café Atlantik und in der Mensa-Bar am Freitag, 27. April, 20 Uhr. Finale im U-20-Wettbewerb im Kleinen Haus des Theaters Freiburg am Samstag, 28. April, 17 Uhr. Finale im Großen Haus des Theaters Freiburg am Samstag, 28. April, 20 Uhr.

Glossar
Slampoet/Slammer: Dichter, der seinen Text bei einem Poetry-Slam präsentiert Slam-Poetry: Dichtung, die bei einem Poetry-Slam vorgetragen wird; Überbegriff: Spoken Word (gesprochenes Wort) Slam-Master: Veranstalter eines Poetry-Slams; oft auch Moderator eines Slams Slamily (aus "slam" und "family"): Netzwerk der Slam-Szene

Ressort: Literatur

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