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Baden-Württemberg

Medizinreport kritisiert große Lücken beim Impfschutz für Kinder

  • dpa

  • Mo, 25. November 2019, 17:26 Uhr
    Südwest

Ein kurzer Stich, ein langer Schutz. Sagen die Mediziner und pochen auf den Impfschutz vor allem für Kleinkinder und ältere Jungen und Mädchen. Der Südwesten liegt bei der Impfquote unter dem Bundesdurchschnitt. Das liegt aber nicht nur an den Impfkritikern.

Vom kommenden März an gilt die Impfpflicht gegen Masern  | Foto: Lukas Schulze
Vom kommenden März an gilt die Impfpflicht gegen Masern Foto: Lukas Schulze
Tausende Kinder in Baden-Württemberg haben nach Berechnungen der Krankenkasse Barmer keinen Impfschutz, etliche sind nicht gegen Windpocken geschützt und fast jedes siebte Kind könnte an Röteln und Mumps erkranken. Das ergibt sich aus den am Montag in Stuttgart vorgelegten Zahlen des Arzneimittelreports der Krankenkasse. "Die Impfquoten unter baden-württembergischen Kindern sind zu niedrig", bemängelte die Kasse, die den Report auf Grundlage der Zahlen aus den eigenen Versichertendateien von 2017 zusammenstellte.

Bei Jungen und Mädchen im einschulungsfähigen Alter sei bei keiner der 13 wichtigsten Infektionskrankheiten eine Impfquote von 90 Prozent erreicht worden. Für eine Schutzwirkung in der Gesellschaft seien aber Immunisierungsraten von mindestens 95 Prozent nötig. Die repräsentativen Daten der Barmer-Versicherten wurden für den Report auf die Bundesbevölkerung hochgerechnet.
  • Impfquote: Laut Arzneimittelreport waren 3,8 Prozent der versicherten Zweijährigen, 3,4 Prozent der Vier- und 2,5 Prozent der Sechsjährigen in Baden-Württemberg im Jahr 2017 überhaupt nicht geimpft worden. "Das wären mehr als 9000 Kinder ohne jeglichen Impfschutz", kritisierte der Barmer-Landesgeschäftsführer Winfried Plötze. "Baden-Württemberg ist ein Land mit unterdurchschnittlicher Impfakzeptanz."
  • Krankheiten: Eine Windpockenimpfung hatten vor zwei Jahren laut Report nur 73,4 Prozent der Sechsjährigen. Lediglich 86,2 Prozent der Kinder derselben Altersgruppe waren gegen Röteln und Mumps geimpft. Auch der Schutz gegen krebserregende humane Papillomviren (HPV) ist laut Report lückenhaft. Und die Zweifachimpfung gegen Masern hatten nur 86,4 Prozent der Jungen und Mädchen im einschulungsfähigen Alter. "Das ist bundesweit die zweitniedrigste Masernimpfquote in dieser Altersgruppe", hieß es. Zudem war mehr als jedes fünfte Kleinkind, das 2015 geboren wurde und bei der Barmer versichert ist, in den ersten beiden Lebensjahren nicht oder nur unvollständig gegen Masern geimpft. Masern sind hochansteckend und können in seltenen Fällen auch tödlich verlaufen.
  • Impfschutz für andere: Insgesamt waren sechsjährige Kinder im Südwesten laut Barmer bei keiner der 13 wichtigsten Infektionskrankheiten ausreichend mit einer Quote von 95 Prozent geimpft. Der Impfschutz aber sei notwendig, um auch diejenigen vor einer Infektion zu schützen, die sich nicht impfen lassen können, erklärte Karlin Stark, die Leiterin des Landesgesundheitsamtes im Regierungspräsidium Stuttgart. Dazu gehörten Schwangere und Babys. "Die geringe Akzeptanz von Impfungen in Baden-Württemberg macht eine Ausrottung von Infektionskrankheiten wie Masern oder Röteln unmöglich", sagte Plötze.
  • Impfskeptiker: Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sieht Impfgegner auf Rang sieben der größten Gefahren für die Weltgesundheit. Eine größere Gruppe stellen die sogenannten Impfskeptiker dar, die Impfungen nicht prinzipiell ablehnen. Sie haben spezielle Auffassungen zum Impfzeitpunkt, zur Impfstrategie, zur Wirksamkeit und Sicherheit sowie zu den Nebenwirkungen. Wie viele Impfgegner oder Impfskeptiker es in Baden-Württemberg gibt, ist unklar. Denn aus den Schuleingangsdaten lässt sich nur der Prozentsatz der nicht geimpften Kinder feststellen. Es lässt sich nicht ersehen, ob ein Kind aus medizinischen Gründen nicht geimpft wurde, ob die Eltern Impfgegner oder Impfskeptiker sind.
  • Risiko Vergesslichkeit: Nicht die Impfkritiker sind das Risiko, sagen, Plötze und Stark: "Die strikten Impfverweigerer sind in der Minderheit", sagte Stark. "Häufiger werden die jeweiligen Krankheiten und die möglichen Folgen unterschätzt." Jeder Dritte vergesse zum Beispiel seinen Impfstatus im Alltagsstress. Hilfreich könnten laut Landesgesundheitsamt feste Arzttermine sein. "Impfungen ohne klaren Impfzeitpunkt oder Impfanlass werden unterdurchschnittlich häufig in Anspruch genommen", sagte Stark.
  • Handlungsbedarf: Nach Ansicht der Techniker Krankenkasse muss vor allem die Gruppe der teilweise geimpften Kinder in den Blick genommen werden. "Wir gehen davon aus, dass deren Eltern grundsätzlich eine hohe Impfbereitschaft haben, die Impfungen aber aus anderen Gründen nicht haben vornehmen lassen", sagte Andreas Vogt, der Leiter der TK-Landesvertretung Baden-Württemberg. Als Gründe nannte die TK Zeitmangel, Ungewissheit, Vergesslichkeit oder zu wenig Aufklärung.
  • Chancen: Um die Impfbereitschaft zu erhöhen, sollten Ärzte laut Report stärker auf die Bedeutung des Schutzes aufmerksam machen. Denn laut Barmer verlässt sich jeder Dritte beim Impfen auf das, was der Arzt sagt. Die Krankenkasse schlägt in ihrem Report zudem einen Zeitkorridor vor, innerhalb dessen geimpft werden soll. Kassen sollten ihre Versicherten zudem aktiv hinweisen, sollte zum Beispiel die nächste Masernimpfung anstehen, forderte TK-Chef Vogt. Baden-Württembergs Gesundheitsminister Manne Lucha (Grüne) schlägt neben dem Impf-Erinnerungssystem durch den Arzt oder die Krankenkasse vor, dass jeder Arzt alle Impfungen durchführen können sollte. "So könnte der Kinderarzt auch die begleitenden Eltern impfen oder die Frauenärztin die bei Jugendlichen fehlende Masernimpfung nachholen", sagte Lucha.

Vom kommenden März an gilt die Impfpflicht gegen Masern

Wird über die Impfpflicht gestritten, geht es vor allem um den Schutz gegen Masern. Von März 2020 an müssen Eltern vor der Einschulung oder der Aufnahme ihres Kindes in eine Kindertagesstätte nachweisen, dass ihr Junge oder ihr Mädchen gegen Masern geimpft ist. Das schreibt das neue Masernschutzgesetz vor. Für Kinder, die schon in der Kita oder in der Schule sind, muss die Impfung oder der Krankheitsfall nachträglich nachgewiesen werden. So soll ein flächendeckender Schutz erreicht werden. Die Impfpflicht gelte auch für andere, darunter Mitarbeiter in Kitas und Schulen. Auch Ärzte sowie weiteres medizinisches Personal und Mitarbeiter in Gemeinschaftseinrichtungen müssen bis Ende Juli 2021 einen vollständigen Impfschutz nachweisen. Verweigern Eltern dies, obwohl sie ihre in Gemeinschaftseinrichtungen Kinder betreuen lassen, kann ein Bußgeld in Höhe von bis zu 2500 Euro verhängt werden.

Ressort: Südwest

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