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Schüler-Talkshow

"Nachgefragt" mit Ex-"Stern"-Chefredakteur Michael Jürgs - wie war's?

Frank Zimmermann
  • Fr, 15. Juni 2012
    Freiburg

Die Umstände - heftige Regengüsse und das bevorstehende EM-Spiel der deutschen Elf gegen Holland - waren wohl ausschlaggebend dafür, dass das Publikum am frühen Mittwochabend bei der jüngsten Ausgabe der Schüler-Talkshow "Nachgefragt" am Rotteck-Gymnasium ungewohnt überschaubar war. Am Gast, dem Journalisten und Autor Michael Jürgs, lag es jedenfalls nicht. Der 67-Jährige erwies sich als äußerst unterhaltsam.

Journalist und Autor Michael Jürgs (Mi...nnen Maren Ruhland und Hannah Schoenen  | Foto: michael bamberger
Journalist und Autor Michael Jürgs (Mitte) im Gespräch mit den Schülerinnen Maren Ruhland und Hannah Schoenen Foto: michael bamberger
Die beiden 17-jährigen Elftklässlerinnen Maren Ruhland und Hannah Schoenen haben in den 90 Minuten so manche Überraschung für den profilierten Journalisten parat. Überraschung Nummer eins: Gefragt nach seiner Zusammenarbeit mit dem trinkfesten Nobelpreisträger Günter Grass ("der kann ganz schön was wegzischen") greift der frühere Stern-Chefredakteur zum vermeintlichen Wasserglas – und nimmt einen kräftigen Schluck Wodka. Was Jürgs an Grass ärgert: In den Gesprächen mit Jürgs für die Biografie über den Dichter verschwieg Grass ihm seine später publik gewordene Mitgliedschaft in der Waffen-SS. "Da", sagt Jürgs, "war er für mich als moralische Instanz erledigt" – nicht, weil er als junger Mann Mitglied in der SS gewesen sei, sondern weil er 50 Jahre dazu geschwiegen und bei dem Thema auf andere eingedroschen habe. Inzwischen haben der Biograf und der Dichter aber Frieden geschlossen, in einer Bar bei einer zufälligen Begegnung. Den Schriftsteller Grass mag Jürgs trotz seines "grauenvollen" Israel-Gedichts. Denn: "Einmischende Literatur ist wichtig."

Überraschung:

ein Banjo

Überraschung Nummer zwei: Aus einem Kühlschrank holen die Gastgeberinnen ein Banjo. Sie hatten recherchiert, dass sich Jürgs seit Jahrzehnten der Musik widmet: früher dem Banjo, heute dem Klavier – derzeit lässt ihn seine Lehrerin Schostakowitsch üben. Als er von den "Nachgefragt"-Moderatorinnen ganz unerwartet das Banjo in die Hand gedrückt bekommt, Brechts "Lied von der Unzulänglichkeit des menschlichen Strebens" singen und auch noch auf dem Klavier etwas spielen muss, versetzt es den Kämpen des aufklärenden Journalismus in Angst und Schrecken: "Es wird furchtbar. Das hat mir niemand gesagt, ich hätte sonst im Zug noch geübt." Spricht’s, singt bravourös das Brecht’sche Lied aus der "Dreigroschenoper" und spielt ein paar Takte auf dem Piano. Den Moderatorinnen begegnet er fürderhin skeptisch: "Ich bin jetzt sehr misstrauisch."

Unterhaltsam ist FC-St.-Pauli-Fan Jürgs an diesem Abend in jedem Fall. Etwa, als es um die AffäreWulff ging ("Was für Niebel der Teppich ist für Christian Wulff der Anrufbeantworter.") – auf den Anrufbeantworter eines Bild-Redakteurs zu sprechen, sei einfach nur dumm. Jürgs erzählt von seinen Enthüllungsgeschichten über Nazis in der Bundesrepublik, seine Begegnung mit Helmut Kohl, der ihn in Schlappen und Strickjacke empfing und sein Dessert verspeiste (Kohl: "Sie essen es nicht?"). Und über seinen Rauswurf beim Stern 1990, nachdem er einen Leitartikel mit dem Titel "Sollen die Zonis bleiben, wo sie sind?" verfasst hatte. Der Rausschmiss habe ihn in eine Depression gestürzt, das Magazin sei sein Leben gewesen. Jürgs echauffiert sich über das Fernsehen, das man besser machen könne, über Mario Barth und "die Sesselfurzer" bei den Öffentlich-Rechtlichen. Und er erinnert an seine Begegnungen mit Romy Schneider, die er für den Stern kurz vor ihrem Tod 1982 bis in die Morgenstunden interviewte, während sie drei Flaschen Chablis trank. "Ich habe", sagt Jürgs über die Actrice, "nicht alles geschrieben, was ich weiß. Bis heute nicht."

ZUR PERSON: MICHAEL JÜRGS

Geboren am 4. Mai 1945, studierte Jürgs in München Politik, Geschichte und Germanistik. Er brach das Studium ab und wurde mit 19 Volontär bei der Münchner Abendzeitung, mit 23 war er Feuilletonchef. 1973 wechselte er zum Verlag Gruner & Jahr, wurde drei Jahre später Ressortleiter "Unterhaltung" und ab 1986 Chefredakteur des Magazins Stern, ehe er 1990 rausflog. Von 1992 bis 1994 war er Chefredakteur bei Tempo, 1992/93 war er auch Co-Moderator der NDR-Talkshow. Jürgs ist Autor zahlreicher Sachbücher und Biografien, unter anderem über Günter Grass und Romy Schneider, und er wurde bekannt für seine Enthüllungsgeschichten über ehemalige Nazis. Er lebt in Hamburg.

Ressort: Freiburg

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 15. Juni 2012: PDF-Version herunterladen

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