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Ungleichbehandlung im Bildungswesen

Studium oder Ausbildung? Schwere Entscheidung für Arbeiterkinder

  • Do, 09. Februar 2012, 08:58 Uhr
    Neues für Schüler

Der Bildungssoziologe Marcel Helbig beschäftigt sich am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) mit sozialen Ungleichheiten im Bildungsbereich. Hat ein junger Mensch, der aus einem Akademikerelternhaus kommt, es an der Uni leichter als ein Arbeiterkind, das als Erstes in seiner Familie studiert? Sonja Kättner hat mit Marcel Helbig, der selbst Arbeiterkind ist, darüber gesprochen.

Marcel Helbig  | Foto: Privat
Marcel Helbig Foto: Privat
Fudder: Studien zeigen immer wieder, dass viel weniger Arbeiterkinder ein Studium beginnen als Kinder mit akademischem Hintergrund.
Marcel Helbig: Die meisten Studien berücksichtigten nur diejenigen, die ohnehin studienberechtigt sind. Dass viele Arbeiterkinder überhaupt keine Studienzugangsberechtigung erlangen, fällt dabei unter den Tisch. Wir sehen zwar auch, dass von den studienberechtigten Arbeiterkinder seltener ein Studium aufnehmen, aber diese Ungleichheiten sind bei weitem nicht so groß wie die im Schulsystem.
Fudder: Was müsste sich denn in unserem Bildungssystem ändern, damit mehr Arbeiterkinder Abitur machen können?
Helbig: Das Hauptproblem ist eigentlich, dass wir das Gefühl haben, wir hätten eine Permanentreform im Schulsystem, die vielleicht auch den Arbeiterkindern etwas bringen könnte. Dieser Eindruck trügt aus meiner Sicht, denn das, was umgestaltet und als große Reform bezeichnet wird, ist in Wahrheit nicht viel. Die Frage ist ja eigentlich: Warum schaffen es Arbeiterkinder nicht durch das Schulsystem? Punkt eins sind erst mal die elterlichen Ressourcen, und da spreche ich am allerwenigsten von Geld, sondern vor allem von kulturellen Gütern wie Büchern oder Vorlesen. Da ist man schon ab dem ersten Lebensjahr schlechter aufgestellt. Betrachtet man die Kita- und Kindergartenausstattung in Deutschland, haben wir da riesige Probleme. Durch eine gute Vorschulbildung könnten solche Herkunftsdefizite sehr stark ausgeglichen werden. Im Moment sind die Kompetenzen zwischen Arbeiterkindern und Akademikerkindern schon in der ersten Klasse sehr unterschiedlich. Zweitens schicken wir unsere Kinder nur vormittags in die Bildungsinstitution Grundschule, anstatt sie noch vier Stunden länger in der Ganztagsbetreuung zu lassen. Dort könnten Dinge wie Musikunterricht oder Hausaufgabenbetreuung integriert werden, wodurch sich die Unterschiede zwischen Arbeiterkindern und Akademikerkindern ein Stück weit nivellieren ließen. Ein letzter, wichtiger Punkt: Die frühe Trennung nach der vierten Klasse. Durch viele Studien haben wir gesehen, dass wir hier eine Fehlzuweisung der Schüler haben, und die hängt oft mit ihrer Herkunft zusammen. Wir verschenken damit riesige Potenziale bei den Arbeiterkindern.

"Als Arbeiterkind ist
man Bildungsaufsteiger."

Fudder: Nach dem Abitur – was sind Ihrer Meinung nach die größten Probleme, die sich Arbeiterkindern auf ihrem Weg ins Studium in den Weg stellen?
Helbig: Sie haben einfach weniger Wissen darüber: Was bedeutet ein Studium? Kann ich überhaupt ein Studium schaffen? Wie finanziere ich das Studium? Welche Kosten sind damit verbunden? Denn in ihrem Umfeld sind statistisch gesehen viel weniger Personen, die selber ein Studium absolviert haben. So ist erst mal eine kulturelle Distanz da. Diese lässt die Erfolgswahrscheinlichkeit der Arbeiterkinder erst mal niedriger erscheinen und die Kosten sowohl objektiv als auch subjektiv höher. Objektiv, da man ohnehin aus dem Elternhaus nicht so viel Geld hat, das bereit gestellt werden kann. Zudem werden die Kosten subjektiv auch noch höher eingeschätzt, als sie eigentlich sind.
Fudder: Besteht also Informationsbedarf über Finanzierungsmöglichkeiten wie Bafög oder Stipendien?
Helbig: Ja. Man kriegt zum Beispiel Bafög erst, wenn man das Studium angefangen hat. Das Arbeiterkind kann also in dem Moment, in dem es das Studium aufnehmen will, noch gar nicht abschätzen, ob es überhaupt eine Studienförderung erhält. Untersuchungen zu Stipendien zeigen, dass diese zu einem so hohen Anteil an Kinder aus der Mittelschicht und der oberen Mittelschicht vergeben werden, weil die Arbeiterkinder teilweise gar nicht von dieser Möglichkeit der Studienfinanzierung wissen. Sie bewerben sich oft auch gar nicht um solche Förderungen, weil sie glauben, dass sie das Stipendium ohnehin nicht bekommen. Zum Beispiel bei Parteistiftungen wird soziales Engagement gefordert, was bei Arbeiterkindern oft weniger vorhanden ist, vielleicht auch dadurch, dass sie neben dem Studium öfter arbeiten gehen müssen und dadurch gar nicht die Zeit dafür haben.
Fudder: Neben den finanziellen Problemen hört man auch immer wieder, dass es Arbeiterkindern zum Teil an Selbstvertrauen mangelt, den Uni-Alltag meistern zu können.
Helbig: Mir ist jetzt direkt dazu keine Studie bekannt. Was man aber weiß, ist, dass die Arbeiterkinder ihre Erfolgswahrscheinlichkeit für das Studium einfach geringer einschätzen und dass ein geringeres Selbstvertrauen da ist. Obwohl, vielleicht sollte man es nicht "geringeres Selbstvertrauen" nennen. Es ist einfach diese soziale Distanz zum Studium da, weil man einfach keine Ahnung hat, was auf einen zukommt.
Fudder: Oft können Eltern, die selbst nicht studiert haben, nicht viel mit den Erzählungen ihrer Kinder anfangen, was zu Problemen und Missverständnissen führen kann. Wie begründet sich das?
Helbig: Als Arbeiterkind ist man Bildungsaufsteiger. Das heißt, man bewegt sich eigentlich aus seinem Milieu heraus, aus dem man einen gewissen Habitus mitbekommen hat. Und dann kommt man auf einmal in dieses neue Umfeld, wodurch es zu einer Veränderung des Habitus der Arbeiterkinder selbst kommt. Das entfernt sie natürlich von ihrem Ausgangsumfeld. Auf der anderen Seite gehört man aber noch lange nicht zur akademischen Schicht, weil einen von den Akademikern einfach ein gewisser Werdegang von 18 Jahren unterscheidet. Man hängt da irgendwo zwischen den Stühlen.
Fudder: Wie schätzen Sie in diesem Kontext die Auswirkungen von Initiativen wie Arbeiterkind.de ein?
Helbig: Es ist oft ein Tropfen auf den heißen Stein, obwohl man sich die Programme genauer angucken muss. Es gibt keine systematische Evaluation, was das eigentlich bringt. Wenn man dies untersuchen würde, könnte man die Programme viel gezielter einsetzen.
Fudder: Vergleicht man die Studien vergangener Jahre, lässt sich ein ansteigender Anteil von Arbeiterkindern an Universitäten erkennen.
Helbig: Man muss sich fragen: Warum sollten heute mehr Arbeiterkinder studieren? Was hat das deutsche Bildungssystem für sie getan? Wenig. Dafür wird Arbeiterkindern aber mehr verdeutlicht, dass ein akademischer Abschluss sicherer ist und vor Arbeitslosigkeit schützt. Um sich wieder abzugrenzen, gehen Akademikerkinder zukünftig vielleicht verstärkt an private Elite-Universitäten, an denen man 10 000 Euro pro Semester zahlen muss.

Das ausführliche Interview gibt es unter fudr.fr/interviewarbeiterkind.

Ressort: Neues für Schüler

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