"Er soll endlich gehen"
BZ-INTERVIEWmit der nicaraguanischen Schriftstellerin Gioconda Belli über die anhaltenden Proteste gegen Präsident Daniel Ortega.
FREIBURG. Am Mittwoch haben in Managua und anderen Städten Nicaraguas Hunderttausende gegen Präsident Daniel Ortega und für vorgezogenen Neuwahlen demonstriert. Wieder gab es Tote, von fünf Opfern ist die Rede. Seit Beginn der Proteste Mitte April sind rund 90 Menschen ums Leben gekommen. Gioconda Belli, eine der bekanntesten Autorinnen Lateinamerikas und in den 1970er-Jahren am Guerillakampf der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) gegen die Somoza-Diktatur beteiligt, verurteilt das Vorgehen der Regierung scharf. Dominik Bloedner sprach mit ihr in Freiburg, wo sie auf ihrer Lesereise Station machte.
Belli: Ich hoffe nicht, auch wenn die Lage zunehmend eskaliert. Die Regierung sagt, sie wolle Feuer mit Feuer bekämpfen. Was den Zuständen in Venezuela ähnelt, ist die absurde Rhetorik: Demonstranten seien rechte Vandalen, von der CIA gesteuert und der US-Botschaft bezahlt.
BZ: Am Mittwoch haben schwarz gekleidete Frauen den Protest angeführt.
Belli: Das waren die "madres de abril", die Mütter der jungen Leute, die man im April erschlug oder erschoss. Am Mittwoch war Muttertag in Nicaragua.
BZ: Wieso protestieren die Menschen seit Wochen?
Belli: Auslöser waren die Ereignisse vom 18. April, als eine friedliche Demonstration gegen eine geplante, nun zurückgenommene Reform der Sozialversicherung von regierungsnahen Schlägertrupps auf Motorrädern angegriffen wurde. Über soziale Netzwerke verbreiteten sich diese Bilder in Windeseile, die Proteste wuchsen. Das Mobiltelefon ist Waffe des Protests, es gibt ja keine unabhängigen Medien mehr in Nicaragua. Daniel Ortega und seine Familie kontrollieren das ganz Land, von den Medien über die Polizei bis zur Justiz.
BZ: Wer sind die Demonstranten?
Belli: Schüler, Studenten, Landarbeiter – ein breites Bündnis der Unzufriedenen, das noch nicht mit einheitlicher Stimme spricht. Auch die Kirche unterstützt die Proteste. Managuas Bischof Silvio Báez meldet sich via Twitter zu Wort. Er und andere Geistliche werden mit dem Tod bedroht.
BZ: Was eint die Protestierenden?
Belli: Der lang aufgestaute Zorn, der 18. April war nur der Auslöser. "Que se vaya!", er soll endlich gehen, ist unser Schlachtruf. Die Arroganz der Regierung und die fehlende Dialogbereitschaft bringen die Leute auf die Straße. In den zwölf Jahren seiner Präsidentschaft hat Ortega keine einzige Pressekonferenz abgehalten, er schwingt immer nur große Reden, die vor Pathos triefen. Nachfragen von Journalisten sind nicht erlaubt.
BZ: Ortega sprach am gleichen Tag vor mehreren tausend Anhängern und wies Forderungen nach einem Rücktritt brüsk zurück. Auch er hat viele Unterstützer.
Belli: Aber es werden immer weniger. Zudem ist das Land international zunehmend isoliert. Nur Venezuela, Kuba oder Bolivien stehen noch zu Ortega.
BZ: Wie ist die Wirtschaftslage?
Belli: Nicaragua lebt von der ökologisch bedenklichen Rinderzucht und Überweisungen aus dem Ausland. Die wichtigste Einnahmequelle sind aber Finanzspritzen aus Venezuela. Bis zum Verfall des Weltmarktpreises für Öl waren dies mehr als eine halbe Milliarde Dollar pro Jahr. Doch Ortega hat das Geld nie nachhaltig investiert, etwa in den Bildungssektor, sondern vor allem an die Günstlinge verteilt. Preise für Wasser und Strom sind heute die höchsten ganz Lateinamerikas, Treibstoff ist teuer, die Unzufriedenheit wächst.
BZ: Was sagen die Unternehmer?
Belli: Sie haben jahrelang von Ortegas neoliberaler Politik profitiert, doch nun wenden auch sie sich ab. Carlos Pellas, reichster Mann Nicaraguas und Chef des Unternehmerverbands, hat in einem Interview Neuwahlen gefordert. Die Unternehmer sorgen sich um Stabilität. Früher war ihnen die Demokratie egal, da wurde nicht protestiert, wenn etwa Zeitungen verboten wurden.
BZ: Und was fordern Sie?
Belli: Ebenfalls vorgezogenen, faire Wahlen und die Wiedereinführung der Begrenzung der Amtszeit. Revolutionen brauchen wohl mehrere Anläufe, das zeigt die Geschichte.
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