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Diskussion um Hartz IV-Sätze

"Wir sollten keine sinnlosen Neid-Debatten führen"

Kathrin Blum
  • Mo, 14. Mai 2018, 14:47 Uhr
    Kreis Breisgau-Hochschwarzwald

Albrecht Schwerer fordert eine visionäre Armutsbekämpfung und kritisiert, dass immer noch gilt: Herkunft bestimmt Zukunft. Der Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Breisgau-Hochschwarzwald sieht Parallelen zwischen Menschen mit Behinderung und Menschen ohne Arbeit.

Herkunft bestimmt Zukunft: Kinder aus armen Familien haben es oft schwer. Foto: dpa
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Armut in Deutschland – lange hat dieses Thema in der öffentlichen Diskussion kaum eine Rolle gespielt. Der neue Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat das durch seine Äußerung, Hartz-IV-Empfänger hätten all das, was sie zum Leben brauchen, geändert. In die Debatte schalten sich auch die Wohlfahrtsverbände ein, die eng mit betroffenen Menschen zusammenarbeiten. Kathrin Blum hat darüber mit Albrecht Schwerer gesprochen. Er ist Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Breisgau-Hochschwarzwald.

BZ: Herr Schwerer, Jens Spahn ist für seine Äußerungen scharf kritisiert worden. Wie groß ist Ihre Empörung?

Schwerer: Ich teile Spahns Meinung zwar ganz und gar nicht, bin ihm aber trotzdem dankbar. Denn er hat ein zentrales und uns am Herzen liegendes Thema ins Gespräch gebracht. Über Armut und Armutsbeseitigung ist viel zu lange nicht mehr öffentlich diskutiert worden.

BZ: Politiker begründen das damit, dass sie in Deutschland kein großes Thema ist.

Schwerer: Es mag kein großes öffentliches Thema sein, aber ein großes öffentliches Problem. Leider möchten das viele nicht sehen. Aus unserer täglichen Arbeit wissen wir: Harzt IV zementiert Armut und benachteiligt vor allem Familien und Kinder.

BZ: Die Hartz-IV-Sätze reichen Ihrer Meinung nach also nicht zum Leben?

Schwerer: Kurzfristig von diesem Geld zu leben mag ausreichen, aber als Langzeitalimentierung ist Hartz IV definitiv nicht geeignet. Wer mehrere Jahre damit auskommen muss, bekommt Probleme. Da fehlt es irgendwann an allen Ecken und Enden. Und die Ausgaben hören nicht auf: Es sind die vielen kleinen alltäglichen Kosten wie Zuzahlungen, eine neue Pfanne, dann geht die Waschmaschine kaputt und der Sohn braucht neue Schuhe...

BZ: Sie plädieren also dafür, dass Betroffene mehr Geld bekommen?

Schwerer: Das ist ein Anfang, aber nicht die Lösung des Problems. Damit sitzen Betroffene immer noch zu Hause – ohne Arbeit, ohne Aufgabe, ohne Anerkennung, ohne Perspektive.

BZ: Könnte ein solidarisches Grundeinkommen – also die Idee, dass Hartz-IV-Bezieher eine Art Gehalt bekommen und dafür einen von der Gemeinde organisierten Job annehmen, die Situation verbessern?

Schwerer: Ich meine ja. Ein Versuch ist es auf jeden Fall wert. Dazu braucht es aber den Mut, anders zu denken und den Willen, neue Perspektiven zu entwickeln. Und mit wir meine ich uns alle: Wir tragen alle Verantwortung gegenüber den Menschen am Rande der Gesellschaft.
BZ: Ein verbreitetes Vorurteil ist es, dass viele Langzeitarbeitslose gar nicht arbeiten wollen.

Schwerer: Unsere Erfahrung zeigt, dass es nur bei einem Bruchteil – ich würde behaupten unter zehn Prozent – am nötigen Willen fehlt. Leider bezieht sich die Diskussion meist auf die Ausnahmen. Die große Mehrheit möchte die eigene Situation ändern, schafft es aber nicht allein.

BZ: Woran liegt das?

Schwerer: Das hat mehrere Gründe. Einer davon: Herkunft bestimmt Zukunft. Wer in eine sozial schwache Familie geboren wird, hat es von Anfang an ungleich schwerer. Und es ist ein Teufelskreis: Armut ist teuer, beispielsweise weil ein billiger Kühlschrank viel Strom braucht. Armut macht einsam, weil die Teilhabe am öffentlichen Leben kaum möglich ist. Sie stigmatisiert, weil gesellschaftliche Anerkennung fehlt. Und sie macht krank, weil der tägliche Kampf um die Sicherung der eigenen Existenz sehr viel Kraft kostet. Das alles bedingt und verstärkt sich gegenseitig.

BZ: Haben Sie konkrete Vorschläge, was Betroffenen helfen könnte?

Schwerer: Wir bräuchten beispielsweise eine Art Teilhabezentren, in denen sich die Menschen ohne Arbeit und Beschäftigung einbringen könnten. Etwa durch Engagement in einer Initiative, der Teilnahme an einer speziellen Maßnahme, gemeinnützige Tätigkeiten oder sie bieten eigene Dienstleistungen an. Dadurch hätten sie eine Aufgabe und könnten am öffentlichen Leben teilhaben. Es gab in der Vergangenheit schon ganz gute Ansätze, die leider nach einigen Jahren nicht mehr gefördert und deshalb eingestellt wurden. Zum Beispiel das Café "Blauer Elefant" in Müllheim. In 15 Jahren hatten wir dort Kontakt und viele positive Erfahrungen mit rund 1000 arbeitssuchenden Menschen.
BZ: Woran machen Sie fest, dass dieses Café etwas bewirkt hat?

Schwerer: Ich denke da etwa an eine Frau, die dort als Spülerin gearbeitet hat. Sicherlich nicht der schönste, erfüllendste Job. Aber doch einer, der den Alltag verändert hat. Von Lehrern der Kinder dieser Frau bekamen wir die Rückmeldung, dass deren Kinder plötzlich wieder pünktlich zur Schule kamen, ein Vesper dabei hatten und voller Stolz erzählten, was die Mutter macht. Die Frau selbst bekam wieder einen aufrechten Gang. Menschen, die teilhaben können, bekommen ihre Würde zurück, weil sie wieder mehr sind als Almosenempfänger, und weil sie ernst genommen werden. Das setzt ganz neue Energien frei. Ähnliche Entwicklungen können wir übrigens auch im Bereich der Inklusion beobachten.

BZ: Inwiefern sind Menschen mit Behinderung und solche ohne Arbeit vergleichbar?

Schwerer: Es handelt sich um unterschiedliche Lebenslagen, gibt aber doch Parallelen. Dies sind die unterschiedlichsten Barrieren, die diese Menschen im wahrsten Sinne des Wortes "behindern". Nehmen wir das Beispiel der Akademie Himmelreich: Anfangs gab es für die Pläne, Menschen mit geistiger Behinderung in die Gastronomie zu integrieren, sehr viel Gegenwind. Die Erfolge zeigen uns, dass diese Menschen nicht kleingehalten und beschützt werden müssen – das trifft auf Menschen mit Behinderung genauso zu, wie auf solche, die auf finanzielle Unterstützung angewiesen sind. Wir müssen für jene da sein, die niemandem haben, der hinter ihnen steht. Wir müssen den Menschen was zutrauen und ihnen dies auch ermöglichen. Unabhängig davon steht es niemandem zu, anderen gesellschaftliche Teilhabe vorzuenthalten – aus welchen ideologischen Gründen auch immer.
BZ: Bei aller Unterstützung stellt sich immer die Frage der Finanzierung – egal ob es um das Grundeinkommen, ein Teilhabezentrum oder sonstige Hilfen geht.

Schwerer: Auch wenn alle gerne jammern – wir hatten noch nie so viel Geld wie jetzt. Deshalb sollten wir auch genau jetzt einen anderen Entwurf wagen. Wir sollten eine solidarische Gesellschaft entwickeln und nicht sinnlose Neiddebatten darüber führen, dass jemand etwas ’umsonst’ bekommt. Sie können mich gerne in diesem Zusammenhang als naiven Gutmenschen bezeichnen. Damit kann ich leben. Aber wenigstens habe ich Visionen.

Albrecht Schwerer (61) ist Geschäftsführer des Diakonischen Werkes Breisgau-Hochschwarzwald. Die Schwerpunkte der Arbeit des Sozialarbeiters und Pädagogen liegen auf der Förderung von erwerbslosen Menschen und der Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Schwerer ist ehrenamtlicher Vorstand des Inklusionsbetriebes Haus & Garten, ehrenamtlicher Leiter der Akademie Himmelreich und Sprecher der Liga der freien Wohlfahrtspflege im Landkreis. Der Vater eines Sohnes ist verheiratet und wohnt in Bad Krozingen.

Ressort: Kreis Breisgau-Hochschwarzwald

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 15. Mai 2018: PDF-Version herunterladen

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