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"Wir wären noch in der Steinzeit"

  • Sa, 05. Oktober 2019
    Neues für Kinder

Anzeige Interview mit Rolf-Dieter Heuer über die Entdeckung des Higgs-Teilchens und die Bedeutung der Mint-Disziplinen.

Rolf-Dieter Heuer  | Foto: Piero Chiussi
Rolf-Dieter Heuer Foto: Piero Chiussi
Teilchenphysik ist die Wissenschaft von den kleinsten Elementarteilchen, aus denen die Welt besteht. Prof. Dr. Rolf-Dieter Heuer, der dieses Jahr zur Eröffnung der Science Days kommt, war dabei, als vor einigen Jahren am Europäischen Kernforschungszentrum Cern bei Genf ein neues, wichtiges Teilchen entdeckt wurde: das Higgs-Boson. Jürgen Meßmer hat ihm dazu einige Fragen gestellt.

Herr Heuer, lange hat man geglaubt, dass Atome die kleinsten Teilchen sind, die es gibt. Bis man entdeckt hat, dass es noch viel kleinere gibt.
Heuer: Richtig, lange sprach man von "Atomos", dem Unteilbaren. Erst vor gut 110 Jahren hat Rutherford in seinem berühmten Streuexperiment nachgewiesen, dass Atome einen Kern besitzen, der fast die gesamte Masse des Atoms darstellt. Die viel größere Atomhülle aus Elektronen ist dagegen fast leer. Der Atomkern besteht aus Protonen und Neutronen, und seit Anfang der 60er Jahre wissen wir, dass diese Teilchen wiederum zusammengesetzt sind aus Quarks, den Up- und den Down-Quarks. Zwei Up-Quarks und ein Down-Quark bilden das Proton, zwei Down-Quarks und ein Up-Quark das Neutron. Alle uns bekannte sichtbare Materie besteht aus diesen zwei Sorten Quarks und den Elektronen. Ich finde es faszinierend, dass wir heute unser sichtbares Universum mit nur drei Materiebausteinen beschreiben können.

Das 2012 neu entdeckte Teilchen wurde nach dem englischen Physiker Peter Higgs benannt. Der hatte schon 1964 gesagt, dass es dieses Teilchen geben muss. Warum hat es fast 50 Jahre gedauert, bis man es tatsächlich gefunden hat?
Heuer: Es hat so lange gebraucht, um die entsprechenden Technologien zu entwickeln: hochenergetische Beschleunigeranlagen, um das Teilchen erst mal zu erzeugen, schon das ist ein sehr seltener Prozess verglichen mit anderen Reaktionen. In 10 Milliarden Protonkollisionen wird nur etwa ein HiggsBoson erzeugt, und das müssen Sie dann auch identifizieren. Dazu mussten hochsensitive große Detektoren entwickelt werden, denn das Higgs-Boson unterscheidet sich nur geringfügig von den Teilchen der anderen Reaktionen. Stellen Sie sich vor, Sie sollten eine ganz spezielle Sorte Schneeflocken in einem Schneesturm vor dem Hintergrund eines großen Schneefeldes identifizieren, dann haben Sie ein Gefühl für diese Aufgabe.

Schließlich hat es noch einmal drei Jahre gedauert, bis die Entdeckung abgesichert war. Ganz wichtig war dabei, dass zwei unabhängige Experimente mit großen Detektoren gleichzeitig die Existenz des Higgs-Bosons mit genügender Sicherheit nachweisen konnten. Eine unabhängige Prüfung ist ganz wichtig bei jeder Entdeckung.

Warum war die Entdeckung des Higgs-Teilchens so wichtig?
Heuer: Ganz einfach: Ohne das Higgs-Boson gäbe es uns nicht, gäbe es keine sichtbare Materie. Das Higgs-Boson ist essentiell für die Erzeugung der Masse der Elementarteilchen, also der Quarks und der Elektronen. Diese wären ansonsten masselos (wie das Photon) und könnten keine gebundenen Zustände wie zum Beispiel Protonen oder Neutronen und damit Kerne, Atome und Moleküle bilden. Das Higgs-Boson ist also ein wesentlicher Baustein in unserem Universum und für unsere Existenz. Erst mit dem Nachweis des Higgs-Bosons ist unser Standardmodell der Teilchenphysik komplett und beschreibt den Mikrokosmos und das frühe Universum in erstaunlich guter Weise. Es beschreibt aber lediglich fünf Prozent des Universums, das sichtbare Universum, und lässt noch viele Fragen unbeantwortet, etwa die nach der Dunklen Materie.

Der LHC ist 27 Kilometer lang und in seinem Innern ist es unvorstellbar kalt. Warum ist das so?
Heuer: Wir brauchen hohe Energien in den Kollisionen der Protonen, um Teilchen mit großer Masse, wie das Higgs-Boson, zu erzeugen. Die erreichbare Energie in einem Kreisbeschleuniger wird bestimmt durch seinen Umfang und die Stärke der Magnete, die die Protonen auf ihrer Kreisbahn halten müssen: Je stärker die Magnete umso höher die erreichbare Energie bei gleicher Länge. Die stärksten Magnete bestehen aus supraleitendem Material, dessen elektrischer Widerstand unter einer bestimmten Temperatur auf null fällt. Die Magnete im LHC werden bei 1,9 Grad über dem absoluten Nullpunkt (-273,15 Grad) betrieben, das ist kälter als im All. Da die Stärke der LHC-Magnete, auch nach vielen Jahren Entwicklungsarbeit, begrenzt ist, braucht es einen großen Beschleuniger.

Die Entdeckung des Higgs-Teilchens passt gut zum diesjährigen Motto "Denk mi(n)t – nimm wahr!" Denn ohne Technik, ohne Mathe und Naturwissenschaften hätte man es wohl nie gefunden?
Heuer: Man hätte es noch nicht mal postuliert, so wie vieles andere auch. Ohne Naturwissenschaften, ohne Theorien (Mathe), ohne Experimente (Technologie) wären wir heute noch in der Steinzeit.

Als Schüler fand ich Physik eigentlich ganz interessant, das viele Rechnen, das dazu gehört, aber gar nicht. Wie war das bei Ihnen?
Heuer: Ich war zwar recht gut in Mathe, aber mich hat an der Physik vor allem die Logik fasziniert. Und das logische Durchdenken von Problemstellungen geht erst mal auch ohne viel rechnen. Wenn es dann konkret wird, muss natürlich auch Mathe ran, und da habe ich mich doch am Anfang des Studiums sehr schwer getan...

Was würden Sie Jugendlichen raten, die Physik studieren möchten?
Heuer: Physik ist die Grundlage vieler Wissenschaften und Technologien, Physik macht auch riesigen Spaß. Als Physiker/in stehen einem viele Berufswege offen, denn das Studium bietet viele unterschiedliche Themen, eine breite Palette. Die Motivation ist ein wichtiger Faktor zur Entscheidung: Also, folgt auch eurem Bauchgefühl!

ZUR PERSON

Rolf-Dieter Heuer, geboren 1948 in Boll (heute: Bad Boll), studierte Physik in Stuttgart, promovierte in Heidelberg und arbeitete unter anderem an der Universität Hamburg und am Europäischen Kernforschungszentrum (Cern) bei Genf. Als das Higgs-Teilchen entdeckt wurde, war er Generaldirektor des Cern (2009 bis 2015), danach wurde er Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, heute ist er deren Vizepräsident. Heuer ist verheiratet und lebt in Frankreich nahe bei Genf.

Ressort: Neues für Kinder

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