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Ozean vor Chile

Algenblüte tötet seit Monaten massenweise Meerestiere

  • Sa, 11. Juni 2016, 00:00 Uhr
    Bildung & Wissen

Es ist ein Alptraum für die Fischern im Süden Chiles. Anfang des Jahres verendeten rund 40 000 Tonnen Lachse in den Fischfarmen der Region Los Lagos. Was steckt dahinter?

8000 Tonnen tote Sardinen dümpeln an der Mündung des Flusses Queule.  | Foto: CAMILO TAPIA
8000 Tonnen tote Sardinen dümpeln an der Mündung des Flusses Queule. Foto: CAMILO TAPIA
Zwischen Dezember und Februar wurden auf der Insel Santa Maria Tausende tote Tintenfische angespült, Wochen später verwandelten 8000 Tonnen verwesende Sardinen die Strände um die Mündung des Flusses Queule in einen Fisch-Friedhof. Es folgten Zehntausende von toten Macha-Muscheln auf der Insel Chiloé. Und auch Wale und Robben bleiben nicht verschont.

Seit Monaten leidet das Meeresleben der Region unter einem Massensterben, das auch für die Fischer zur Katastrophe wird. Ausgelöst wird es durch winzige, aber umso gefährlichere Giftmischer, deren Zahl in diesem Jahr explodiert ist: Milliarden Algen der Art Pseudochattonella verruculosa überziehen das Wasser mit einem roten Teppich.

Es ist nicht der erste Fall, in dem giftige Algenblüten zum Problem für Mensch und Tier geworden sind. Rund um die Welt treten solche Phänomene immer wieder auf. Derzeit kennen Experten ungefähr 100 Algenarten, die toxische Verbindungen produzieren können. Damit sind die Giftmischer eine verschwindend kleine Minderheit unter den mehr als 10 000 Algenspezies der Weltmeere. Ihr Arsenal aber hat es in sich. Denn es enthält hochwirksame Nervengifte, die sich in der Nahrungskette anreichern.

Muscheln etwa können in einer Stunde viele Millionen einzellige Algen mitsamt ihrer gefährlichen Fracht aus dem Wasser filtern. Viele Weichtiere sterben nicht an den Giften, deponieren sie aber oft in hohen Konzentrationen in ihrem Körper. Und dann wird es gefährlich für Meeresfrüchte-Fans. Weltweit handeln sich jedes Jahr fast 2000 Menschen beim Verzehr von belasteten Muscheln oder Fischen eine Vergiftung ein. Rund 15 Prozent der Fälle enden für die menschlichen Opfer tödlich (siehe Infobox).

Auch für Fische und Seevögel, Schildkröten und Meeressäuger kann so eine Mahlzeit fatale Folgen haben. Von den wirtschaftlichen Schäden für Fischerei und Aquakulturen gar nicht zu reden.

Zu gern würden Wissenschaftler daher besser verstehen, wie die für Mensch und Tier gefährlichen Massenentwicklungen solcher Algen zustande kommen. Doch die Biologie der kleinen Giftmischer steckt noch immer voller Rätsel. Lange konnte zum Beispiel niemand so recht erklären, wozu sie ihre Biowaffen überhaupt produzieren. Gegen viele Muschelarten scheinen sie schließlich nicht sonderlich wirksam zu sein. Doch es gibt ja auch noch andere Feinde – wie etwa die winzigen Ruderfußkrebse. Zumindest gegen einige dieser ebenso eifrigen wie häufigen Algenfresser zeigen die Gifte im Labor durchaus Wirkung. Die betroffenen Tiere leiden zum Beispiel unter nachlassendem Appetit, einer geringeren Fruchtbarkeit oder Entwicklungsstörungen – manche sterben sogar.

Und etliche Arten der gefräßigen Vegetarier scheinen toxische Algen zu meiden, wenn sie ungiftige Alternativen haben. Also können sich die besser verteidigten Einzeller auch besser vermehren, mitunter sogar massenhaft. Ihren Abwehrmechanismus setzen die Algen gezielt ein, wie Forscher um Erik Selander von der Universität im schwedischen Göteborg und seine Kollegen herausfanden: Zumindest einige Arten reagieren demnach auf verräterische Substanzen, die Ruderfußkrebse, Seescheiden und andere Feinde ins Wasser abgeben. Solche chemischen Warnungen quittieren sie mit einer bis zu zwanzigfach erhöhten Giftproduktion.

Giftige Algenblüten sind keineswegs ein neues Phänomen, in Europa sind sie schon seit mehr als hundert Jahren bekannt. Es gibt allerdings Indizien dafür, dass sie Meeresregionen rund um die Welt mittlerweile häufiger und heftiger heimsuchen. So hat es die "roten Fluten" vor Chile auch früher schon gegeben – allerdings nicht in einem so katastrophalen Ausmaß wie derzeit. Im vergangenen Jahr traf es die Pazifik-Küste der USA vom Süden Kaliforniens bis hinauf nach Alaska. In etlichen Küstenregionen von Kalifornien, Oregon und Washington musste der Fang von Muscheln und Krabben, Sardinen und Anchovis eingestellt werden, Experten des Fischerei-Forschungsinstituts Northwest Fisheries Science Center sprachen von einem Rekord-Ereignis. In der Monterey Bay in Kalifornien und vor Oregons Küste fanden sie die höchsten je dort gemessenen Konzentrationen des Algengiftes Domoinsäure.

Auch aus den chinesischen Küstengewässern kommen keine guten Nachrichten. Dort verzeichnen Meeresforscher um Douding Lu vom Labor für Marine Ökosysteme und Biogeochemie in Hangzhou seit den 1970er Jahren eine massive Zunahme an giftigen Algenblüten. Rund 60 solcher Ereignisse registrieren die Behörden dort mittlerweile pro Jahr, darunter auch großflächige, die sich über mehr als 1000 Quadratkilometer erstrecken.

Nach Einschätzung der Forscher stecken hinter dieser Entwicklung gleich mehrere Faktoren. Einer davon ist die zunehmende Nährstoffbelastung der Küstengewässer durch Landwirtschaft und Abwässer. An der Mündung des Flusses Jangtse hat sich die Nitrat-Konzentration zum Beispiel innerhalb von 40 Jahren verdreifacht. Und es gibt eine ganze Reihe von giftigen Algenarten, die von einem solchen Stickstoff-Düngerschub profitieren können. Zudem sind im Ballastwasser von Schiffen eine ganze Reihe neuer Giftmischer in Chinas Gewässer eingereist.

In den letzten beiden Jahrzehnten haben Biologen dort mehr toxische Algenarten gefunden als je zuvor. Ähnliche Effekte werden auch für viele andere Meeresregionen diskutiert. Zwar kann es durchaus sein, dass Fortschritte in der Messtechnik und die Zunahme von giftanfälligen Aquakulturen einfach mehr Aufmerksamkeit auf die Algenblüten lenken. Nach Ansicht der meisten Experten ist es aber wahrscheinlich, dass der Mensch diese Ereignisse fördert. Neben der Überdüngung der Meere könnte dabei auch ihre Erwärmung eine Rolle spielen. Denn höhere Temperaturen führen in der Regel auch zu üppigerem Algenwachstum. In Chile war es das Klimaphänomen El Niño, das den Fluten während des Sommers auf der Südhalbkugel besonders einheizte. Doch auch der Klimawandel scheint sich bereits bemerkbar zu machen. Im Nordatlantik sowie in der Nord- und Ostsee gibt es zum Beispiel Hinweise darauf, dass steigende Wassertemperaturen zu einer Zunahme von Giftalgen aus der Gruppe der Dinoflagellaten geführt haben und dass diese Organismen früher im Jahr dort auftauchen.

Noch fehlt es allerdings an Langzeitbeobachtungen, um mögliche Trends besser einschätzen zu können. Es lohnt sich jedenfalls, die Giftmischer der Ozeane im Auge zu behalten. Denn die Alpträume könnten noch häufiger werden.
Algengifte

Saxitoxin wird vor allem von Einzellern der Gattung Alexandrium produziert und kann sich in Miesmuscheln, Pfahlmuscheln und Austern anreichern. Der Verzehr betroffener Meeresfrüchte führt zur "Paralytischen Muschelvergiftung", die mit Übelkeit, Erbrechen und Durchfall verbunden ist, außerdem kann das Gift Sehstörungen und Atemlähmungen auslösen. Eine Dosis von 0,2 Milligramm ist für einen Erwachsenen tödlich. Neben dem Verzehr kann auch das Einatmen des Giftes innerhalb von Minuten zum Tod führen. Die Substanz ist als biologische Waffe im deutschen Kriegswaffenkontrollgesetz aufgeführt.

Domoinsäure gehört zum Arsenal von Kieselalgen der Gattung Pseudo-nitzschia. Auch diese Substanz kann mit Muscheln oder Fischen aufgenommen werden und Übelkeit, Krämpfe und Durchfall, sowie Kopfschmerzen und Atembeschwerden auslösen. Bekannt ist das Gift vor allem dafür, zu Ausfällen im Kurzzeitgedächtnis zu führen, die allerdings meist wieder verschwinden.

Ciguatoxine und Maitotoxine sind Verbindungen, die in Einzellern aus der Gruppe der Dinoflagellaten vorkommen. Sie gehören zu den stärksten bekannten Giften, sie stören die Signalweiterleitung im Nervensystem. Hohe Konzentrationen finden sich in Raubfischen wie Barracudas oder Zackenbarschen. Beim Menschen führen sie zur Ciguatera, der häufigsten Form von Fischvergiftung. Symptome sind Ausschlag, Taubheitsgefühl im Mund und Verdauungsbeschwerden. Etwa sieben Prozent der Betroffenen sterben.

Ressort: Bildung & Wissen

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Sa, 11. Juni 2016: PDF-Version herunterladen

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