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Die Mutter darf nicht mit ins Krankenhaus

Inge Günther
  • Do, 13. Juli 2017
    Ausland

Der Gazastreifen steckt im Machtkampf zwischen Hamas, Fatah und Israel fest – und zwei Millionen Palästinenser bezahlen einen hohen Preis dafür.

Abir Abu-Toha und ihr krebskranker Sohn Jason zu Hause   | Foto: Inge Günther
Abir Abu-Toha und ihr krebskranker Sohn Jason zu Hause Foto: Inge Günther
"Ihr Junge hat Leukämie." Schon die Diagnose traf Abir Abu-Toha wie ein Hammerschlag. "Seit diesem Moment", sagt die Mutter von vier Kindern, "weiß ich nicht mehr, wie man lächelt." Auf den ersten Schock folgte der nächste, als sie erfuhr, dass es für die lebensbedrohliche Erkrankung ihres zehnjährigen Sohnes Jason in Gaza keine Therapie gibt. Man müsse ihn zur Chemotherapie ins Westjordanland schicken, sagten ihr die Ärzte. Nur: Wahrscheinlich lasse man sie dabei nicht mit.

In aller Regel erlaubt Israel ausschließlich Personen über 50, minderjährige Patienten raus aus Gaza zu begleiten. Abir Abu-Toha stellte trotzdem einen Antrag, sie wollte ihrem schwerkranken Sohn in der fremden Umgebung beistehen. Er wurde zweimal abgelehnt. Abir Abu-Toha ist erst 30 und fällt damit in die Kategorie Sicherheitsrisiko. Als der Bescheid kam, "habe ich die ganze Nacht lang nur geweint".

So begann noch vor dem Start der langwierigen medizinischen Prozedur ein nervenaufreibender Hindernislauf. Wer in Gaza den Krebs besiegen will, muss zunächst mit der Bürokratie kämpfen und ist dem notorischen Mangelzustand ausgeliefert, hervorgerufen durch die nunmehr zehn Jahre andauernde Abriegelung des palästinensischen Küstenstreifens. All dies hat bei Abir Abu Toha fast noch mehr Ängste und Ungewissheiten mit sich gebracht als Jasons Heilungsprozess. Erst nach langer Suche fand sich eine entfernte, ältere Kusine, die den Zehnjährigen zur Behandlung nach Bethlehem begleitete. Beim ersten Mal lag Jason 45 Tage dort im Kinderhospital, ein Häufchen Elend am Tropf, an der Seite eine Tante, die er bis dahin nicht kannte. Ihm blieben allabendlich ein paar Minuten mütterlicher Zuspruch am Handy. So geht es nun schon über Monate, im kürzer werdenden Wechsel zwischen Chemotherapie in der Westbank und Nachsorge im Rantisi-Hospital in Gaza-City. Ist er zu Hause, so wie jetzt, weichen seine Eltern nicht von seinem Krankenbett. Ihre größte Sorge ist, dass es mit dem nächsten Termin – diesmal anberaumt in einer Spezialklinik in Jerusalem – wegen Jasons allergischer Reaktionen nichts wird.

Hinzu kommt, dass sich in jüngster Zeit die politische Lage weiter zugespitzt hat. "Dabei sinken mit jeder Verzögerung der Therapie die statistischen Überlebenschancen", konstatiert Mahmud Schbair nüchtern. Er leitet die pädiatrische Onkologie-Abteilung im Rantisi-Krankenhaus, das einzige in dem palästinensischen Küstenstreifen. 300 junge Krebspatienten sind es derzeit, die meisten muss er irgendwann in eine Spezialklinik außerhalb überweisen.

In Gaza bleibt ihren Eltern nichts übrig als Hoffen und Warten. Erst auf die Zusage der Kostenübernahme seitens der Autonomiebehörden in Ramallah, dann auf die Ausreisegenehmigung der Israelis. Zuletzt, sagt Schbair, sei die Zahl der abgelehnten Anträge gestiegen. Derweil gingen ihm und seinen Kollegen die Medikamente aus. 20 Arzneimittel, von Morphin bis zu Zytostatika, die Krebszellen an der Teilung hindern, weist inzwischen die Liste jener Pharmazeutika aus, die in seinem Krankenhaus knapp werden oder bereits ausgegangen sind. 90 Prozent davon sind nach ärztlicher Auskunft für die Krebsbehandlung unentbehrlich. Ein 15 Monate altes Baby, berichtet Schbair, sei kürzlich auf seiner Station verstorben, das womöglich hätte gerettet werden können, wenn rechtzeitig die nötigen Medikamente vorhanden gewesen wären.

Man könnte auch sagen: Tod durch politisches Versagen. Denn die akute Versorgungskrise ist zuallererst Folge des verqueren Dreierkonflikts zwischen den Islamisten der Hamas – den Machthabern in Gaza –, ihren Rivalen von der Fatah im Westjordanland um Präsident Mahmud Abbas und Israel. Um der Hamas Druck zu machen, hat Palästinenserführer Abbas radikal finanzielle Subventionen gekappt, die bislang einen großen Teil der Energiekosten in Gaza deckten. Auch ließ er die Gelder für humanitäre Belange zusammenstreichen. Vermutet wird, dass er mit dieser Art durchzugreifen, nicht zuletzt US-Präsident Donald Trump imponieren wollte, auf den Abbas als Nahostvermittler setzt. Jedenfalls zog die israelische Regierung nach, kürzte ebenfalls die Stromlieferung um ein Drittel und verschärfte die über Gaza verhängten Restriktionen.

Die Strafmaßnahmen treffen jedoch die Schwächsten der Gesellschaft am härtesten. Weil es keinen Strom gibt, laufen auch die Pumpen der Kläranlagen nicht. Die Abwässer ergießen sich als braune Brühe ins Meer. "Baden verboten – Seuchengefahr" steht auf den Warnschildern am Strand.

Die Hoffnung richtet sich nun auf einen Mann, den die Hamas 2007 davongejagt hatte und der später auch von Abbas aus dem Westjordanland verbannt wurde: Mohammed Dahlan, einst Fatah-Führer und Sicherheitschef in Gaza. Er sitzt in Kairo, wo er die Gunst von Staatschef Abdel al-Sisi genießt. Das ist Dahlans Trumpf. Nur ihm könnte es gelingen, Ägypten zu einer Öffnung der Grenze zwischen Gaza und dem Sinai zu bewegen. Dahlan hat erste geheime Treffen mit einer Hamas-Delegation in Kairo organisiert. Ein erster Erfolg: Ägypten liefert wieder Treibstoff – es gibt wieder fünf statt drei bis vier Stunden Strom am Tag.

Eine Allianz mit Dahlan könnte sich für Gaza auszahlen. Voraussetzung wäre, dass die Hamas der von Sisi verlangten Auslieferung ägyptischer Terroristen zustimmt, die in Gaza untergetaucht sind. "Der Hamas bleibt keine Alternative, als sich mit den Ägyptern gutzustellen, seitdem sie aus Katar keine Hilfe mehr erwarten kann", meint der palästinensische Analyst Talal Okal. "Für sie geht es ums Überleben." In diesem Punkt aber war die Hamas stets beweglicher, als wenn es um das Wohl der zwei Millionen Einwohner in dem Elendsstreifen ging.

Ressort: Ausland

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