Der Seidenschal

Ein Mädchen hat im Zug eine eigenartige Begegnung / Eine Kurzgeschichte von Luisa C. Mehrgardt.  

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Ein Zeitvertreib: Fensterbilder malen  | Foto: epert (photocase.de)
Ein Zeitvertreib: Fensterbilder malen Foto: epert (photocase.de)
Die Scheibe war kalt. Lächelnd malte Aurore den Umriss der Stadt. Kirchturm, Hochhaus, Turm. Dahinter kam die aufgehende Sonne. "Das bist du", hätte ihre Mutter gesagt und ihr eine Sage von Aurora, der Göttin der Morgenröte, erzählt. Von Juno, Jupiter oder Diana. Aurore schnitt eine Grimasse, um wieder zu lächeln. Ihr Spiegelbild schien zu sagen: "Denk an was anderes!" Sie streckte ihm die Zunge raus und erwiderte laut: "Ich darf denken, was ich will!""Ganz richtig, meine Liebe. Die Gedanken sind frei."

Überrascht drehte Aurore sich um. "Das ist ein Liedtext aus der Zeit des Vormärzes." Die junge Frau mit der sanften, hohen Stimme lachte ein weiches, hohes Lachen. Unbemerkt hatte sie das Abteil betreten. Doch Aurore starrte sie weiter irritiert an. "Aber du gehst bestimmt noch nicht zur Schule. Hier ist noch frei, nicht wahr?" Die Frau deutete lächelnd auf den Platz neben dem Mädchen. "Alle anderen Abteile sind besetzt, musst du wissen." Der Waggon begann zu ruckeln. Die Landschaft strich vorbei und bildete eine grau-grüne Farbsuppe, während sie immer schneller wurden.

"Weißt du, ich finde es auch nicht schön, wenn wir Weihnachten keinen Schnee haben. Aber langsam gebe ich die Hoffnung auf, dass es bis heute Abend noch schneit. Kennst du übrigens die Geschichten über den Yeti? Oder die von den Schneezwergen? Ach, ich liebe den Winter. Muss wohl daran liegen, dass es in meiner Heimat keinen richtigen gibt." Die Dame hüstelte leise. "Leider erkälte ich mich immer."

Fasziniert blickte ihr Aurore in die Augen. Sie waren goldbraun. "Hast du den Schal aus deiner Heimat?" Kein normaler Passagier der zweiten Klasse trug einen teuren Seidenschal. Allerdings redete auch kein normaler Erwachsener einfach so mit einem einsamen Kind. "Oh nein", die lachenden Augen der sonderbaren Reisenden blitzten auf, "den habe ich von meiner Asienreise mitgebracht. Darin ist ein Zauber eingewebt, der Wärme schenken soll, aber ich glaube der Verkäufer hat mir doch eher einen Glücksschal angedreht. Was soll man machen? Ich sollte besser aufpassen!"

Der Schal leuchtete in verschiedenen warmen Lila-Tönen, ein blumenartiges Muster zog sich kunstvoll über den gesamten wertvollen Stoff. Aurore musste wieder an ihre Mutter denken. Die Dame mit dem Seidenschal war ihr irgendwie ähnlich. "Ich fahre nach Venedig, und du? Hach, die Stadt der Fantasie! Wusstest du, dass die Holzstützen der Paläste nur mit Hilfe der Meerjungfrauen halten? Leider können auch sie nichts gegen den Klimawandel ausrichten, Venedig wird versinken. Blöde Menschen! Machen alles kaputt, was sie berühren", sagte die Dame wütend.

Aurores Augen brannten. Diese Frau hätte ihre Mutter sein können. Sie fühlte sich einsamer als je zuvor in ihrem Leben. "Aber wir sind doch auch Menschen." Die Dame lächelte, natürlich sanft. "Meine Kleine, du bist ein Kind. Kinder sind heutzutage oft so viel vernünftiger als Erwachsene." Mit schrillem Quietschen hielt der Zug. "Auf Wiedersehen, Aurore. Fröhliche Weihnachten." Ohne sich nochmal umzudrehen, erhob sich die Frau und verließ das Abteil. Aurore lauschte dem langsam verklingenden Klick-Klack ihrer Stöckelschuhe. Der Zug schien um zehn Grad kälter zu werden. Na super, dachte Aurore. Weihnachten ohne Menschen, ohne Musik und ohne Geschenke. Sie haute wütend mit der Faust auf den Sitz neben ihr. Ihre Finger fühlten feinen Stoff. Stoff in warmen Lila-Tönen. Überrascht hob das kleine Mädchen den Schal hoch und legte ihn sich um. Ein Zettel flatterte zu Boden. "Für Au...ro...re", entzifferte sie mühsam.

Plötzlich durchflutete ein wohliges Glücksgefühl ihren Körper, und Aurore hatte keine Ahnung, ob es an Weihnachten lag, daran, dass die Frau ihr ein Geschenk gemacht hatte oder ob der Seidenschal seinen Zauber entfaltete. Das einzige, das sie stutzen ließ, war der goldene Schimmer, den der Schal ausstrahlte. Der Zauber, dachte Aurore und schlief ein.
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