Die Schüler haben keine Zeit mehr

Bildungsreformen werden von Fachleuten ausgearbeitet - eine Gruppe von Experten bleibt weitgehend außen vor: die Schüler.  

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"Wir Schüler brauchen mehr Mitspracherecht an unseren Schulen", findet Dino Maiwaldt, Vorsitzender des baden-württembergischen Landesschülerbeirats. Und das war - angesichts der anstehenden bildungspolitischen Veränderungen - auch die Stimmung auf dem Landesschülerkongress, der kürzlich in Karlsruhe tagte. 700 Schülerinnen und Schüler waren der Einladung des Landesschülerbeirats gefolgt und hatten in 60 Workshops und bei zwei Podiumsdiskussionen gezeigt, dass Bildungspolitik auch von Jugendlichen mitgestaltet werden kann.

Doch allzu groß sind die Einflussmöglichkeiten der Schülermitverantwortungen (SMV) vor Ort und des Landesschülerbeirats nicht: In der Schulkonferenz, dem wichtigsten Entscheidungsgremium einer Schule, sind nur je drei Schüler und drei Eltern vertreten, die keine Entscheidung gegen die Mehrheit aus sechs Lehrern und dem Schulleiter fällen können. Und der Landesschülerbeirat hat überhaupt nur beratende Funktion und wird vom Kultusministerium in strittigen Fragen angehört. Doch Dino Maiwaldt ist sich sicher: "Wer behauptet, der Landesschülerbeirat sei nur ein Alibi-Gremium hat keine Ahnung!"

So war auf dem Landesschülerkongress das beherrschende Thema die Einführung der neuen Bildungsstandards für alle Schularten ab September 2004. Durch die nämlich wird stärker auf die Profilierung der einzelnen Schulen gesetzt: Ein Drittel der Unterrichtsstunden können von den Schulen selbst mehr oder weniger frei auf die Fächer und Klassenstufen verteilt werden. Die Lehrpläne schreiben nur noch vor, welche Grundfähigkeiten die Schüler einer Alterstufe jeweils beherrschen sollen - wie diese erlernt und welche Details vertieft werden sollen, ist der Schule überlassen.

Das Kultusministerium gibt sich modern und präsentiert seine Reformen im Internet (http://www.bildungsstandards-bw.de "So haben wir unsere Entwürfe einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht", sagt Brigitte Weiske vom Landesinstitut für Erziehung und Unterricht (LEU). "Vorschläge aus der Internetdiskussion wurden dann bei der weiteren Bearbeitung der Bildungspläne berücksichtigt." Dino Maiwaldt ist weitgehend zufrieden mit der Art, wie auf Wünsche des Landeschülerbeirats bei der Gestaltung der Bildungsstandards eingegangen wurde. Reformen seien dringend notwendig, "denn machen wir uns nichts vor, unser Schulsystem ist vollkommen veraltet". Deshalb sei es auf jeden Fall ein richtiger Schritt, den Schulen mehr Eigenverantwortung zu geben.

"Die Arbeitsbelastung der Schüler ist um 30 Prozent gestiegen." Dino Maiwaldt, Schülerbeirat

Dennoch: Die Reformen bergen auch große Gefahren. Die neuen Freiheiten der Schulen könnten immer noch zu wenig von Eltern und Schüler mitgestaltet werden, so Maiwaldt. Außerdem kritisiert er scharf, dass die Reformen vom Kultusministerium "im Hauruckverfahren durchgepeitscht" worden seien.

Auch viele Lehrerkollegien fühlen sich von den Aufgaben, die sie durch die neuen Reformen zu bewältigen haben, überrannt. Erst seit Oktober ist die endgültige Fassung der Bildungsstandards im Internet verfügbar, gar erst im Februar erhielt jeder Lehrer ein eigenes gedrucktes Exemplar. Dennoch müssen die Schulen im September ihre eigenen, individuellen Hauslehrpläne ausgearbeitet haben und zum Beispiel an den Realschulen bereit sein für neu geschaffene Fächerverbünde wie NWA (Naturwissenschaftliches Arbeiten in Biologie, Chemie, Physik). Bis zum kommenden Schuljahr müssen dann zum Beispiel Erdkundelehrer der sechsten Klasse aus Sätzen schlau werden wie: "Durch die aktive Auseinandersetzung mit der Erde in verschiedenen Darstellungsformen besitzen die Schülerinnen und Schüler die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten für eine weltweite Orientierung."

Nicht besser ergeht es den Kollegen am Gymnasium. In den Standards für Sport in der Oberstufe heißt es nun als Lernziel: "Die Schülerinnen und Schüler können die Bedeutung des eigenen sportlichen Handelns für eine gesunde Lebensführung beschreiben." Und: die Gymnasiallehrer müssen ihre Schüler ab 2004/05 in nur acht Jahren aufs Abitur vorbereiten. Kein Wunder, dass die Reaktionen der Lehrer auf die Verpflichtung, ab diesem Schuljahr eine Stunde mehr zu unterrichten, und eine Kürzung des Weihnachts- und Urlaubsgelds heftig ausgefallen sind. Etliche Extras wie Projektwochen, Schulfeste und Klassenfahrten wurden gestrichen. Dino Maiwaldt ist in manchen Punkten über das Vorgehen in Stuttgart erstaunt: Einerseits verlange das Kultusministerium immer wieder Evaluation, Qualitätsvergleiche und Qualitätssicherung an den Schulen - so werden jetzt alle zwei Jahren zentrale Vergleichsarbeiten geschrieben, wie bisher nur in Klasse 10 des Gymnasiums -, andererseits stelle sich die Ministerin selbst viel zu wenig der öffentlichen Kritik. Als Beispiel nennt Maiwaldt die neue Oberstufenreform: "Die Noten der Schülerinnen und Schüler sind gar nicht schlechter geworden, aber ihre Arbeitsbelastung ist um 30 Prozent gestiegen."

Tatsächlich melden sich vermehrt die Schülermitverantwortungen, und auch Sportvereine und andere außerschulische Gruppen zu Wort: Die Schüler haben keine Zeit mehr, sich zu engagieren. Das viel gepriesene soziale Lernen bleibt so natürlich auf der Strecke. Viele befürchten auch, dass diese Situation mit der Erhöhung der Stundenzahlen durch das achtjährige Gymnasium noch schlimmer wird. Dennoch ist sich Brigitte Weiske sicher, "dass die Bildungsplanarbeit in Baden-Württemberg keineswegs am Bedarf der eigentlichen Adressaten vorbeigeplant und durchgeführt wurde".

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