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"Ein Gedenktag und sonst gar nichts"

  • Kathrin Hagemann

  • Do, 18. September 2003
    Zisch

     

Nicht-Erinnern wäre respektlos - fragt sich bloß, an was man am 11. September denken sollte.

Gestern habe ich mir Mühe gegeben, vor Mitternacht im Bett zu sein. Ich wollte nicht noch die Null-Uhr-Nachrichten mitbekommen, in denen eine seriöse Frauenstimme verkünden würde: "Heute jähren sich die Terroranschläge des Elften September auf die USA, bei denen mehrere tausend Menschen ums Leben kamen. . . Diese Meldung würde wie irgendeine klingen, wäre aber viel wichtiger, weil der elfte September ja die Welt verändert hat.

Schon um viertel nach sechs gibt es am Morgen kein Entkommen mehr. Das Radio schlägt Alarm, Schreie und Sirenen statt des üblichen Guten-Morgen-Gedudels. Wenn man will, kann man eigentlich jeden Morgen beim Aufstehen an schlimme Dinge denken. An jedem gewöhnlichen, sonnigen Tag kann man davon ausgehen, dass sich gerade irgendwo Menschen gegenseitig berauben, quälen, umbringen, dass jemand an Hunger oder an Armut stirbt und dass irgendwo, wo zwei sich streiten, ein Unschuldiger zwischen die Fronten gerät und zerquetscht wird. Okay, wir denken nicht mehr jeden Morgen an das Elend der ganzen Welt, weil wir es nicht ausgehalten haben auf die Dauer. Aber heute, heute soll uns geholfen werden. Zum Frühstück bekommen wir die Katastrophe noch mal aufgetischt: die Zeitung zeigt uns die Bilder, die wir gerade erst vergessen hatten, viele berüchtigte Worte wie Terror und Taliban und Gotteskrieger schwirren durch die Luft, dazu liefert das Radio die Geräuschkulisse. Wir sollen uns erinnern. Wir müssen uns erinnern. Und zwar heute. Alles andere wäre respektlos.

In der Schule. Der Mathelehrer hat wahrscheinlich Anweisung, seine Schüler bei der seelischen Aufarbeitung der Weltgeschichte zu unterstützen, natürlich hält er sich daran. Jeder erzählt noch mal, wo er gerade war, als er es erfahren hat. Vor einem Jahr hat das unglaublich geholfen. Als Sarah davon erzählte, dachten alle nur, sie hätte eine Tüte zu viel geraucht. Kevin hatte sich den ganzen Nachmittag lang Actionfilme reingezogen und war noch voll in seinem Element, als er dann ein Flugzeug ins World Trade Center krachen sah. Heute bringt das Erzählen nicht mehr so viel.

Dreißig Sekunden Schweigen im Mathe-Unterricht

Dreißig Sekunden Schweigemoment im Mathematikunterricht. Der Lehrer schweigt tapfer, wir schweigen auch. Ich frage mich, woran ich denn jetzt denken kann, schließlich denke ich doch wieder an Kevin und an Sarah und dass unser Fernseher so unglaublich schlechten Empfang hatte an dem Tag und die Bilder ganz verflimmert rüberkamen. Als wir dann doch was sehen konnten, hat keiner geredet. Den ganzen Abend lang haben wir nichts gesagt, bis wir uns später Spaghetti gemacht haben mit viel Käse. Da mussten wir dann reden, weil es keiner mehr ausgehalten hat nach der stundenlangen Katastrophenendlosschleife. Wir haben dumme Witze gerissen. Viel zu dumm. Aber das kam vom Schock. Ich weiß noch, wie fertig ich an diesem Tag war und am nächsten Tag auch noch und dann noch ein paar Tage lang, und alle anderen auch. Jeden Tag ging es um den Terroranschlag, bis man dann nur noch Elfter September gesagt hat oder "nine-eleven". Und jeder wusste, was gemeint war. Überhaupt hat man irgendwann alles drüber gewusst. Man hat ja auch schnell gewusst, wer schuld war.

Heute ist Gedenktag, Jahrestag, und ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Mich auf den Kopf stellen, das wäre eine Idee, ich käme mir sicher schon besser, entlasteter vor. Abends denke ich, vielleicht habe ich mich doch noch nicht genug erinnert. Im Ersten läuft die Dokumentation der zwei französischen Brüder, die zufällig an diesem Tag mit ihren Filmkameras in New York herumliefen. Näher dran war wahrscheinlich niemand. Dieser Film zeige die Schrecken des elften September in ihrem ganzen Ausmaß, habe ich irgendwo gelesen. Aber am Ende weiß ich immer noch nicht, ob ich jetzt alles richtig verstanden habe. Opfer, Trümmer, Asche, Witwen, Waisen, Feuerwehrmänner, Fassungslosigkeit, politisches Theater auf mehreren Bühnen - wir sollen die Bilder sehen und uns fürchten. Fast so sehr wie vor einem Jahr. Vielleicht ist der 11. September von jetzt an dazu da, jedes Jahr wieder Gedenktag zu sein. Und sonst gar nichts.

Ressort: Zisch

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 18. September 2003: PDF-Version herunterladen

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