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Unterm Strich

Immer mehr Texte im Netz geben eine Lesedauer an

Frauke Wolter
  • Fr, 31. März 2017
    Kolumnen

     

Eine gute Minute

Diesen Text zu lesen kostet Sie eine gute Minute – für den Fall, Sie sind erwachsen und im Lesen geübt. Dann nämlich, so haben es Experten errechnet, erfassen Sie etwa 200 bis 250 Wörter pro Minute. Im Fachjargon nennt man das dann WPM oder Lektüretempo. Warum wir Ihnen das aufschreiben? Natürlich damit Sie es lesen, aber auch, weil WPM offenbar gerade im Trend liegt. Immer mehr Anbieter von Nachrichten im Netz jedenfalls versehen ihre Artikel mit der ungefähren Lesedauer. Informationen über die Hungersnot am Horn von Afrika? Zwei Minuten. Präsident Trumps jüngste Ausfälle gegenüber den US-Demokraten? Eine Minute 30 (weil nicht auf Twitter!). Die Rezension eines Theaterstücks – vier Minuten (okay, Kultur braucht immer etwas mehr Zeit, schon wegen des Anspruchs und der manchmal schwierigen Wörter.)

Natürlich sind das alles nur Richtwerte. Schließlich ist man nicht immer ganz wach, wenn man morgens als erstes auf dem Smartphone Nachrichten checkt. Andererseits soll es ja auch Menschen geben, die das Quer- und Schnelllesen perfektioniert haben – und schon mit diesem Text in Nullkommanix fertig sind.

Überraschen sollte diese Zeitangabe nicht. Unser ganzes Leben strukturiert sich über derartige Daten: Die Wartezeit auf die Tram beträgt drei Minuten, der Kinofilm plus Werbung dauert 123 Minuten, die Stadttour zwei Stunden. Warum also nicht die Lesedauer gleich zu Beginn voraussagen? Angeblich beflügelt sie die Lust aufs Lesen. Wer weiß, wie lange er für einen Text braucht, lässt sich vielleicht eher auf ihn ein, so die Hoffnung. Denn Aufmerksamkeit ist längst ein rares Gut geworden. Weshalb ein Nachrichtenmagazin kürzlich auch Zusammenfassungen für seine Artikel angeboten hat. Keine zwei Minuten Zeit für die Tragödie in Peru? Geht auch in zwei Sätzen (0,09 Minuten). Was der WPM-Durchschnittswert allerdings nicht misst, ist die Zeit, die man braucht, sich beim Lesen seine eigenen Gedanken zu machen. Dieses Lesen aber ist ohne Limit.

Ressort: Kolumnen

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 31. März 2017: PDF-Version herunterladen

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