"Sie sind unglaublich flexibel"

JUZ-INTERVIEW: Die Freiburger Soziologin Cornelia Helfferich über Lebensläufe von Jugendlichen, Zukunftsängste und Chancen.  

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Mit der Schule fertig: das ganze Leben liegt vor einem - und will richtig angegangen sein, planvoll oder chaotisch, am besten aber richtig. Was beeinflusst uns Jugendliche dabei? Woher nehmen wir unsere Ideen, was macht uns Angst? Für die JuZ sprach Aurea Steiner mit der Soziologin Cornelia Helfferich, Konrektorin der Evangelischen Fachhochschule in Freiburg. Sie hat unter anderem intensiv zum Thema Lebensläufe geforscht - und hat selber einen 19-jährigen Sohn.

JuZ: Woran orientieren sich Jugendliche?
Cornelia Helfferich: Nicht mehr unbedingt an den Eltern. Aber auch die Abgrenzung wie beispielsweise in den 70er-Jahren, in denen die Jugendlichen partout nicht so leben wollten wie ihre Eltern, sondern das Gegenteil machten, ist heute kein verbreitetes Muster mehr. Die Jugendlichen heute denken viel mehr in die Zukunft, daran, was sie machen können. Die Angst vor Arbeitslosigkeit lässt sie Verantwortung für sich selbst übernehmen und selbstständige Entscheidungen treffen. Es herrscht eine große Unsicherheit und Verunsicherung.

JuZ: Wie stark sind Wege vorbestimmt?
Helfferich: Es gibt Jugendliche, die haben schlechte Startchancen. Bei anderen, zum Beispiel Kindern aus Akademikerfamilien, ist der Besuch des Gymnasiums selbstverständlich und auch das Geld für die Nachhilfe kann aufgebracht werden. Kinder aus suchtabhängigen Familien oder mit negativen Kindheitserlebnissen haben einfach schlechtere Startchancen, auch wenn dieses Leben nicht vererbbar ist. Insgesamt sind die Bildungschancen sehr ungleich, was auch die Pisa-Studie veranschaulicht. Ich halte Deutschland in diesem Bereich für ein sehr ungerechtes Land. Eine Stadt-und Jugendpolitik, die sozial ist, könnte das ändern. Sorgen bereitet uns auch, wenn junge Mädchen und Frauen, die keinen Zugang zu Bildung und später guten Jobs oder die Schwierigkeiten in der Schule haben, früh ein Kind bekommen. Sie versuchen Anerkennung durch ein Kind zu erhalten, da sie die Nachteile nicht sehen, sondern nur von den Eltern weg wollen. Das ist eine Weichenstellung, die das Leben für diese Kinder sehr viel schwerer macht.

JuZ: Worin unterscheiden sich Lebensläufe der Jugendlichen heute zu denen der vorhergehenden Generation?
Helfferich: Die Jugendlichen machen sich heute mehr Gedanken und sie müssen mehr mit Unsicherheit umgehen. Sie denken mehr an ihre Zukunft und haben Angst vor Arbeitslosigkeit. So überlegen zum Beispiel Studierende, welchen Studiengang sie wählen, vergleichen die verschiedenen Hochschulen und überlegen, wie ihre späteren Berufschancen aussehen werden und was sie verdienen werden. Sie sind unglaublich flexibel. Es ist sehr schwer, sich in diesem ganzen Wirrwarr der heutigen Zeit zurechtzufinden. Früher haben Eltern erwartet, dass wenigstens eines ihrer Kinder den Beruf des Vaters übernimmt. Geht man noch eine Generation zurück, bestand oft der Zwang, dass der Beruf weitergeführt wurde.


"Jede Generation sagt von sich, sie sei frei gewesen, so beispielsweise die Nachkriegsgeneration, die in den Trümmern gespielt hat. Heute bedeutet Reisen Freiheit."

Hier muss auf jeden Fall noch der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen genannt werden. Die Mädchen sind bereit, in Berufe zu gehen mit geringen Chancen auf Aufstiegsmöglichkeiten. Sie achten nicht darauf, dass sie später nur wenig verdienen werden. Es ist die Aufgabe der Berufsinformationszentren, die Mädchen stärker aufzuklären. Der typische Frauenberuf der Arzthelferin ist zum Beispiel ein Beruf, in dem die Auszubildenden nur selten übernommen werden in eine Festanstellung. Die Shell-Studie belegt, dass bei Jugendlichen bis 19 Jahren Beruf und Familie gleich wichtig sind. Mit steigendem Alter bleibt diese Einstellung bei den Jungen gleich, bei den Mädchen geht die Bedeutung des Berufes jedoch deutlich zurück. Sie denken, dass sich der Beruf und die Familie nicht vereinen lassen, wogegen sich die Jungen darüber keine Gedanken machen. Das ist schade.

JuZ: Wie stark werden Jugendliche in ihrer Entwicklung von außen beeinflusst?
Helfferich: Die Ökonomie spielt eine große Rolle, die Medien auf eine subtile Art und Weise. Jede Generation sagt von sich, sie sei frei gewesen, so beispielsweise die Nachkriegsgeneration, die in den Trümmern gespielt hat. Es ist immer eine andere Art von Freiheit, heute ist es das Reisen. Jugendliche müssen sich heute mit mehr Normen und Medienbotschaften auseinander setzen und sie müssen auch mehr kämpfen.

JuZ: Ist es möglich, sich den Zwängen der Medien zu entziehen?
Helfferich: Ich sehe das nicht so pessimistisch und habe eher Vertrauen in die Jugend. Man braucht Kompetenzen, um mit Medien umzugehen, gerade mit den Medien, die eine neue Art der Kommunikation ermöglichen. Und die haben viele Jugendliche heute viel mehr. Sie können inzwischen besser mit Medien umgehen als manche Erwachsene. Und dann bieten Medien auch Chancen und Möglichkeiten.

JuZ: Inwieweit spielt das Geschlecht eine Rolle?
Helfferich: Das Geschlecht spielt eine große Rolle. Und zwar nicht bei der Schulbildung, sondern es gibt einen Satz: Die Tür, die sich bei der Schulbildung öffnet, schließt sich wieder bei der Suche nach einem Beruf. Die Gesellschaft beharrt darauf, dass Beruf und Familie nicht vereinbar seien. Frauen setzen sich nicht selbstbewusst genug ein und die Männer unterstützen sie nicht. Es liegt also an beiden Seiten. Wir haben hier in Deutschland eine formale Gleichstellung und Frauen haben formal eine gleiche soziale Stellung, anders als zum Beispiel in Indien. Wir setzen aber die gegebenen Möglichkeiten nicht um. Die Politik könnte hier viel ändern, aber auch nicht alles. Bewegen können zum Beispiel diejenigen etwas, die Ausbildungs- und Arbeitsplätze vergeben. Aber Mädchen und Jungen müssen sich auch selbst einsetzen.


"Wir sollten mehr Umwege zulassen. Es sollte mehr Möglichkeiten für Menschen mit krummen Biografien geben."

JuZ: Wo sehen Sie Bruchstellen, die die Jugendlichen prägen und ihren weiteren Weg bestimmen?
Helfferich: Ein Punkt, der über den weiteren Lebensweg entscheidet, ist eine gute Ausbildung. Außerdem sollten wir mehr Umwege für Menschen mit krummen Biografien zulassen. Zudem haben wir Altersbegrenzungen. Wer erst später auf den Trichter kommt, sich zu qualifizieren, wird nicht mehr zugelassen. Das betrifft zum Beispiel Frauen, die jung ein Kind bekommen haben oder Jugendliche, die länger im Ausland waren. Dabei sind Reisen wichtig, Jugendliche sollten nach Möglichkeit Erfahrungen im Ausland zu sammeln.

JuZ: Wie können Jugendliche ihre Unsicherheit vor der Zukunft bekämpfen?
Helfferich: Die Erwachsenen müssen Verständnis haben, dass Jugendliche unsicher sind. Und sich auch die Frage stellen "Warum?". Sind Jugendliche beispielsweise aggressiv, muss man darauf eingehen und sich fragen, woher diese Aggressivität kommt. Erwachsene können die Jugendlichen unterstützen und ihnen Anregungen bieten, dürfen dabei aber die Interessen nicht ganz untergraben. Die Jugend muss ihren eigenen Weg gehen, da ansetzen, wo Unsicherheit entsteht. Lehrer, Eltern und Freunde zusammen können helfen.

JuZ: Drei ganz konkrete Tipps, die Sie für junge Leute haben?
Helfferich: Als Erstes einen Tipp an die Mädchen: Sie sollen mehr Selbstbewusstsein entwickeln und einen Beruf erlernen, der über die klassischen Frauenberufe hinausgeht, sich mehr zutrauen und auch Leitungspositionen übernehmen. Als Zweites möchte ich weitergeben, dass Jungen und Mädchen im Umgang miteinander fair sein sollen, in der Clique genauso wie in der Partnerschaft. Sie sollen es so machen, wie sie es für richtig halten. Einen dritten Tipp habe ich eigentlich nicht.

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