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Interview

Sozialarbeiterin: "Man sollte sexistische Werbung verbieten"

Sonja Zellmann
  • Di, 06. Oktober 2020, 16:52 Uhr
    Panorama

Mädchen würden in Deutschland häufig Sexismus und manchmal Gewalt erleben, sagt die Sozialarbeiterin Martina Hocke. Der Weltmädchentag am 11. Oktober sei deshalb auch hierzulande wichtig.

Eine Demonstrantin auf einer Kundgebung gegen Sexismus. Foto: Christian Charisius
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BZ: Frau Hocke, dass Mädchen in vielen Teilen der Welt aufgrund patriarchaler Strukturen benachteiligt sind, sie zum Beispiel durch Frühverheiratung keinen Zugang zu Bildung haben, ist bekannt. Mädchen in Deutschland können sich aber doch frei entfalten. Braucht es denn den Mädchentag auch hier?

Hocke: Ja, ich finde es sehr wichtig, zumindest einmal im Jahr auf die Lebenssituation der Mädchen hier aufmerksam zu machen. Wobei Mädchen natürlich auch in Deutschland in unterschiedlichen Lebenswelten leben. Doch generell gilt: Sie erleben häufig Sexismus, manche auch Gewalt, und es ist immer noch so, dass ihnen, wenn auch unabsichtlich, schon früh Rollen anerzogen werden, die sie begrenzen. Sie bekommen "Mädchen"-Spielzeug, werden hübsch angezogen und seltener ermutigt, draußen zu spielen und sich dreckig zu machen.
Der Weltmädchentag am 11. Oktober soll darauf aufmerksam machen, dass Mädchen weltweit immer noch nicht dieselben Chancen haben wie Jungen. Sie werden der Kinderrechtsorganisation Plan International zufolge im Verhältnis zu Jungs häufiger diskriminiert und an selbstbestimmter Entfaltung gehindert.

BZ: Aber haben Jungs nicht das gleiche Problem? Ihnen werden ja auch von klein auf bestimmte Rollen zugesprochen.

Hocke: Das ist richtig, aber der Unterschied besteht darin, dass die Rollen und Vorstellungen, an denen Mädchen sich orientieren sollen, in der Gesellschaft nicht so hoch angesehen sind wie die Rollen von Jungen.

BZ: Zum Beispiel?

Hocke: Mädchen wird in der Schule oft großes Interesse an Sprachen unterstellt, Jungs an Technik. Das gibt einen Weg vor, auch wenn die Interessen tatsächlich anders liegen. Der Beruf der Dolmetscherin beispielsweise ist aber nicht so hoch angesehen wie der des Ingenieurs und bringt auch schlechtere Karriere- und Verdienstmöglichkeiten mit sich.

"Die besseren Abschlussnoten bringen den Mädchen jedoch nicht viel, denn sobald es in den Beruf geht, wendet sich das Blatt."

BZ: Dennoch kommen Mädchen im Vergleich zu Jungs oft erfolgreicher durch die Schule.

Hocke: Mädchen werden auf Eigenschaften trainiert, die im Schulsystem gebraucht werden, zum Beispiel Fleiß. Sie kriegen nicht, wie Jungs, Anerkennung dafür, wenn sie wild sind. Die besseren Abschlussnoten bringen den Mädchen jedoch nicht viel, denn sobald es in den Beruf geht, wendet sich das Blatt. Dann sind sie nicht mehr vorne dran, dann sind Kreativität und Durchsetzungskraft wichtiger – Dinge, die Jungs schon in der Kindheit lernen.

BZ: Was möchten Sie bei Tritta* mit Ihrer Mädchenarbeit erreichen?

Hocke: Wir wollen die Mädchen stärken, ihr Selbstbewusstsein festigen, sie darin unterstützen, zu erkennen, was sie wollen, und dies auch zu äußern. Dafür braucht es Räume, wo Mädchen unter sich sind.



BZ: Warum halten Sie das für so wichtig?

Hocke: In einer Mädchengruppe können die Mädchen Dinge ausprobieren und lernen, die sie sich in einer gemischten Gruppe nicht (zu-)trauen würden. Und anschließend sind sie stolz drauf. Sie trauen sich hier auch eher, sich offen auszutauschen. Oder Dinge wie Alltagsdiskriminierungen zu benennen, die ja so normalisiert sind, dass sie kaum auffallen.

"Es passieren so viele kleine Sachen, anzügliche Bemerkungen, zu nahes Randrängen im Bus."

BZ: Was meinen Sie damit?

Hocke: Zum Beispiel wenn Jungs Mädchen Puppe oder Bitch nennen. Den Mädchen fällt es oft schwer, Herabsetzungen wie diese oder Alltagsbenachteiligungen zu erkennen. Es passieren so viele kleine Sachen, anzügliche Bemerkungen, zu nahes Randrängen im Bus – darauf einzugehen, macht Diskriminierung spürbar. Da fällt es oft leichter, solche Dinge zu bagatellisieren.
Martina Hocke (54) hat in Freiburg Soziale Arbeit studiert und arbeitet seit 21 Jahren in der Mädchenarbeit beim Verein Tritta*.

BZ: Beschützen wir Mädchen zu sehr?

Hocke: In gewisser Weise ja. Das ist gut gemeint, aber die Wirkung ist nicht gut. Auf einer feinen Ebene schwingt mit: "Die Erwachsenen trauen mir das nicht zu." Zum Beispiel abends draußen zu sein. Obwohl die Fakten sagen, dass die Gefahr für junge Männer wesentlich höher ist als für Mädchen, draußen Gewalt zu erfahren. Mädchen wird viel häufiger in Innenräumen Gewalt angetan, in der Verwandtschaft, im Sportverein. Besser, als sie zu sehr zu behüten, ist, Mädchen Techniken an die Hand zu geben, wie sie sich in den wenigen Notsituationen wehren oder wie sie Hilfe holen können. Und die genannten Alltagsbenachteiligungen müssen ernst genommen werden.

"Man sollte sexistische Werbung verbieten, und es wäre schön, wenn Mädchen vor Gericht immer ernst genommen würden."


BZ: Was sollte sich noch ändern?

Hocke: Man sollte sexistische Werbung verbieten, und es wäre schön, wenn Mädchen vor Gericht immer ernst genommen würden. Aber es ist ja auch schon Positives passiert: das Antidiskriminierungsgesetz oder die Förderung von Mädchen in den MINT-Fächern Mathe, Informatik, Naturwissenschaft und Technik. Gesellschaftliche Veränderung ist langwierig. Man muss seinem Anliegen immer wieder Gehör verschaffen – zum Beispiel mit dem Weltmädchentag!

BZ: Was denken Sie, bräuchte es auch einen Weltjungentag?

Hocke: Ich finde nicht. Auch Jungs erfahren natürlich Gewalt und Diskriminierung, aber nicht zuvorderst, weil sie Jungs sind. Sondern weil sie schwul sind oder geflüchtet oder von Rassismus betroffen. Mädchen sind dagegen strukturell in einer schlechteren Position, nur weil sie Mädchen sind. Andere Diskriminierungsformen kommen dann noch dazu.

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Ressort: Panorama

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Di, 06. Oktober 2020: PDF-Version herunterladen

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