Comeback
Vertraut und warm: Warum wir uns doch wieder die Hände reichen
Die einen kostet es noch Überwindung, die anderen sehnen die Berührung herbei: das Händeschütteln nach mehr als zwei Jahren Pandemie. Es gibt gute Gründe, warum wir es wieder tun - trotz allem.
Sophia Weimer
Fr, 20. Mai 2022, 17:43 Uhr
Panorama
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Eine so lange kulturelle Tradition ändere sich nicht in zwei Jahren Pandemie, sagt Martin Grunwald. Er ist Psychologe und leitet das Haptik-Forschungslabor an der Uni Leipzig. "Erst über sogenannte Vollkontakt-Informationen versichern wir uns, dass der andere wirklich existiert, wirklich da ist. Allen anderen Sinnen kann man nicht so sehr trauen." Der Mensch sei ein sogenanntes nesthockendes Säugetier. "Wir wachsen ganz stark mit körperlichen Interaktionen auf und sind entsprechend auf Körperkontakt zu anderen angewiesen." Besonders jetzt, nachdem vieles nur online stattfand, sehnt sich der Berührungssinn nach Anregung.
Doch auch, wer sich mit der Faust oder per Ellenbogen begrüßt, berührt den anderen – nur anders. Reicht das nicht? "Das ist ein ganz anderes Körpergefühl, nichts Warmes, nichts Weiches. Sehr hart, knochig", sagt Grunwald. Das sei nur ein Kompromiss. Der Wissenschaftler findet es erstaunlich, dass man schon zu Beginn der Pandemie solche Kompromisse gesucht und nicht einfach komplett auf körperliche Begrüßungsrituale verzichtet habe. Soziokulturell wird dem Sich-die-Handgeben noch eine andere Bedeutung zugeschrieben. Das signalisiere "Ich komme in Frieden" und "Ich bin waffenlos".
Nach einigen Corona-Monaten klagte der britische Sänger Ronan Keating: "Ich fürchte, wir werden uns weniger berühren, es wird vielleicht auch weniger Wärme geben", sagte der Popstar. "Ein guter Handschlag bedeutet einfach etwas." Und siehe da: Selbst Politiker – und sogar die britische Königin Elizabeth – gaben sich in den vergangenen Wochen wieder herzlich die Hand. Die Szene zwischen Bundeskanzler Olaf Scholz und dem britischen Premierminister Boris Johnson dürften viele aus ihrem Alltag kennen: Einer reicht die Hand, der andere bietet erstmal noch die Faust zum Gruß.
Nach zwei Jahren Abstand erscheint vielen aber auch der Händedruck als Berührung mit neuen oder losen Bekannten fast intim. Ist das nicht ganz schön viel Nähe? "Das ist genau der Punkt", sagt die Expertin. "So viel Nähe zuzulassen ist ein Risiko. Wenn diese riskante Situation gut ausgeht, empfinden wir das als sehr angenehm. So entstehen soziale Bindungen."
Für den einen oder anderen ist es etwas zu viel Nähe – vor allem nach zwei Jahren Grübeln über Viren, Ansteckungen und Abstand. Diejenigen, die das Händeschütteln "jetzt befremdlich finden, haben es entweder schon immer befremdlich gefunden, das aber in der täglichen Routine überspielt – oder sind sich der Notwendigkeit und der Funktion der Begrüßung nicht bewusst", sagt Gerke. Denjenigen rät die Verhaltensbiologin, sich eine andere Form der Begrüßung auszusuchen und diese so lange zu üben – rund 30 Mal allein vorm Spiegel – bis sie sich vertraut anfühlt.
Auch wenn die Bedürfnisse unterschiedlich sind: Ganz ohne Anfassen geht es für die wenigsten. "Wir eignen uns die Umwelt durch Körperkontakt an", erklärt Martin Grunwald. Gut zu beobachten sei das zum Beispiel bei Neugeborenen: "Jeder will ein Baby auf den Arm nehmen. So wird es in der Familie, in der Gesellschaft aufgenommen." Sich gegenseitig die Hand zu geben, sei immer auch ein Informationskanal, sagt Martin Grunwald. "Da spüre ich die Spannung, die Verfassung des anderen ."
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