"Es het jeder e Chance verdient"

WEIL/KÖNDRINGEN/FREIBURG. Einerseits klagen immer mehr Betriebe über den Fachkräftemangel, gleichzeitig finden Zehntausende junge Leute keinen Ausbildungsplatz. Bis zum Beginn des laufenden Ausbildungsjahres Anfang Oktober gingen laut Bundesinstitut für Berufsbildung 84 000 Bewerber bei der Vergabe der Lehrstellen leer aus. Aus den Firmen sind oft Klagen darüber zu hören, dass die jungen Leute zu wenig Kompetenzen mitbrächten aus der Schule. Doch einige Unternehmer belassen es nicht beim Jammern. Sie geben auch jungen Leuten eine Chance, die schlechte Voraussetzungen haben, ins Berufsleben einzusteigen. Drei von ihnen stellt die BZ vor.  

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WEIL/KÖNDRINGEN/FREIBURG. Einerseits klagen immer mehr Betriebe über den Fachkräftemangel, gleichzeitig finden Zehntausende junge Leute keinen Ausbildungsplatz. Bis zum Beginn des laufenden Ausbildungsjahres Anfang Oktober gingen laut Bundesinstitut für Berufsbildung 84 000 Bewerber bei der Vergabe der Lehrstellen leer aus. Aus den Firmen sind oft Klagen darüber zu hören, dass die jungen Leute zu wenig Kompetenzen mitbrächten aus der Schule. Doch einige Unternehmer belassen es nicht beim Jammern. Sie geben auch jungen Leuten eine Chance, die schlechte Voraussetzungen haben, ins Berufsleben einzusteigen. Drei von ihnen stellt die BZ vor.

JOGI LEDERER AUS WEIL AM RHEIN
Joachim Lederer nennen sogar seine Auszubildenden Jogi. Meister Lederer ist Kultmetzger in Weil am Rhein, sein einziger Laden in der Hauptstraße wird am Samstag von Kunden aus dem ganzen Landkreis Lörrach und aus Basel überrannt. "Mir bediene dann zu zehnt an der Theke, da isch die Hölle los", sagt der Alemanne aus dem Wiesental. Sein Bruder hat dort in Gresgen hoch über Zell einen Bauernhof. Von dort stammt das Fleisch für die Metzgerei. 1991 hat Jogi Lederer mit vier Leuten in Weil angefangen, jetzt sind es 26 Festangestellte und bis zu 60 Aushilfen, vor allem für den Partyservice und den Partykeller im Pavillon, der von Architektin Zaha Hadid gestaltet wurde.

Ein eifriger Ringer war Jogi früher, Marathonläufer ist der 52-Jährige heute noch. Und mit der gleichen Energie kümmert er sich um junge Leute, gern auch um solche, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens aufgewachsen sind. "Du musch e Vorbild si, dann kriegsch du sie", sagt Lederer. Er hat einen Vollwaisen ausgebildet, den er bei dessen Bewährungshelfer abgeholt hat. Er hat eine Hauptschülerin mit dem Notendurchschnitt 4,9 Fleischfachverkäuferin in seinem Geschäft lernen lassen und ihr gesagt: "Wenn du des schaffsch, no kannsch bi mir bliibe." Und einen 30 Jahre alten Gipserlehrling mit schwerem körperlichen Handicap zum Metzger umgeschult.

Wie macht der Meister das? "Ich mach mit allene e Plan", betont Lederer. Erst Praktikum, dann Ausbildung, dann Arbeiten, dann Meisterprüfung. Das klingt einfach, ist aber schwer zu machen. "Mer muss halt mit ene umgehn könne." Jogi Lederer scheint ein Naturtalent dafür zu sein. Er macht den Eindruck, als ob ihn nichts schrecken könnte, auch keine langen Wege. "Ich hab do e Italiener, der mir in der Mezg hilft." Der hat ihn gebeten, mit dorthin zu fahren, wo er herkommt – nach Bari, unten, am italienischen Stiefelabsatz. Ein gutes Dutzend arbeitsloser Jugendlicher wäre sofort mit nach Deutschland gekommen, um bei Lederer zu arbeiten. "Nai, so goht des nit", hat der Metzger abgewehrt und ihnen das duale System der deutschen Berufsausbildung vom Dolmetscher erklären lassen.

Lernen müssten sie, erst mal die deutsche Sprache. Einer hat sich davon nicht beirren lassen und kommt demnächst zum Praktikum nach Weil. "Es het jeder e Chance verdient", meint Jogi Lederer. Er selbst hat nicht aus freien Stücken Metzger gelernt, der Vater hat beiden Söhnen gesagt, was sie werden sollen. Lederer hadert nicht, er liebt seinen Beruf, sagt er. Das Schaffen ist er von klein auf gewohnt, sein Tempo und seine Ausdauer sind enorm. Er ist ein Marathonmeister.

REINHOLD KOPFMANN AUS KÖNDRINGEN
Marathon läuft der Elektromeister Reinhold Kopfmann (57) aus Köndringen nicht. Aber auch er war mal Sportler, Handballer bei der SG Köndringen und Jugendtrainer. Kopfmann hat seinen Elektrobetrieb in Teningen-Köndringen im Kreis Emmendingen nicht geerbt, sondern 1993 daheim im Esszimmer gegründet. "Da war ich schon da", lächelt Tochter Carmen (27). Ihr Hamster hat die erste Buchhaltung zerfressen. Heute ist die Betriebswirtin mit im Unternehmen, das jetzt 40 Mitarbeiter hat und bei den global player der Region Leitungen für Strom und EDV-Netzwerke verlegt, Schaltkästen und Photovoltaik installiert.

Die meisten Mitarbeiter – es sind überwiegend Männer – hat Reinhold Kopfmann selbst ausgebildet. Von den 16 ehemaligen Auszubildenden sind noch fast alle als Gesellen oder Meister da. "Bis vor fünf Jahren war das alles eine Frage des Zufalls", blickt Kopfmann zurück. "Es gab Bewerbungen, und den einen hat man genommen und den anderen nicht." Doch es bewarben sich immer weniger um eine Lehrstelle und viele, die es taten, brachten aus der Schule so wenig mit, dass Kopfmann für sie am Samstagvormittag zusätzlich Unterricht in Mathe und Physik abhalten muss, damit sie Beruf und Berufsschule packen. "Die können nicht sagen, welchen Wert Pi hat", seufzt Kopfmann, "noch nicht mal annähernd." Dabei ist die unendlich lange Kreiszahl von 3,14 ... für geometrische Berechnungen doch unverzichtbar.

Irgendwann hat Kopfmann seinen Freund Hans Farina (69) um Rat gefragt und ist bei ihm an den Richtigen geraten. Der Rentner im Unruhestand war 33 Jahre lang Ausbildungsleiter beim Waldkircher Sensorhersteller Sick. Farina ist nicht nur Meister der Zahlen, sondern Menschenkenner und ausgestattet mit einem Fundus an Erfahrungen, die er nach dem Ausscheiden bei Sick im Waldkircher Ausbildungsverbund Wabe und im Schlichtungsausschuss der Industrie- und Handelskammer (IHK) Südlicher Oberrhein einbringt. Jetzt berät er auch Kopfmann. Die Männerfreunde ergänzen sich gut. Mal ist der Gutmütige und mal der Strenge etwas mehr gefordert.

Reinhold Kopfmann wirbt bei Kindern und Jugendlichen für technisches Verständnis. Beim Regionalwettbewerb von "Jugend forscht", in einem Kindergarten und in zwei Schulen in Köndringen und Teningen. Für diese Partnerschaften und seine Ausbildung hat der Meisterbetrieb in diesem Herbst im bundesweiten Wettbewerb "Wirtschaft und Schule" in der Kategorie der Betriebe unter 100 Beschäftigten den Ersten Preis gewonnen. Nicht er selbst, sondern seine Auszubildenden sind die besten Botschafter. "Was die sagen, macht mehr Eindruck auf die Schüler", räumt Kopfmann ein. Bei seinen Jungs ist der stattliche Mann aber eine Vaterfigur, sie hören auf ihn. Und wehren sich auch nicht, wenn er einfach mal einen von ihnen in den Arm nimmt.

JOHANNES ULLRICH AUS FREIBURG
Trost bekommen Kinder aus sogenannten schwierigen Familien selten. Der Bildungsweg ist meist ein Hürdenlauf und der Ernst des Lebens in einer Berufsausbildung der pure Stress für alle Beteiligten, für die Ausbilder nicht selten pädagogische Schwerstarbeit. "Wir sind auf diese Aufgaben eigentlich nicht vorbereitet", sagt Johannes Ullrich. "Man kann viel intuitiv aus dem Bauch raus machen", sagt der 52 Jahre alte Freiburger Malermeister, "aber man stößt auch schnell an seine Grenzen."

Vor 14 Jahren hat Ullrich den Betrieb seines Vaters übernommen. Eigentlich sollte ihn der Bruder kriegen, aber der hat sich anderweitig selbstständig gemacht, ist heute Restaurator im Kloster Scheyern, einer Benediktinerabtei in Bayern. "Wir fahren manchmal alle Mann hin und helfen. Das beruhigt sehr", sagt Ullrich.

In seinem Malerfachbetrieb in Freiburg sind 33 Männer und Frauen beschäftigt, davon sechs Auszubildende. Darunter sind momentan nur zwei, die eine normale Schullaufbahn auf Haupt- und Realschule hinter sich haben. Die anderen kommen von der Förderschule, die früher Sonderschule hieß oder aus berufspädagogischen Maßnahmen, wo die jungen Leute den Hauptschulabschluss nachgeholt haben. Oft beginnen sie zunächst mit einer dreijährigen Lehre zum Bau- und Metallmaler. Zum Gesellen braucht es ein weiteres Jahr. "Ein Praktikum bei mir ist Voraussetzung", betont Ullrich – "Beide Seiten müssen sich kennenlernen." Oft genug schaut der Meister dabei in soziale Abgründe in den Familien. Eine Mischung aus Drogen, Gewalt und Langzeitarbeitslosigkeit.

"Wir können die jungen Leute nicht hängen lassen", sagt Ullrich und schüttelt dabei energisch den Kopf. Natürlich braucht er gute Leute, um seinen Betrieb am Laufen zu halten, aber er will auch nicht mit ansehen, wie junge Leute die schiefe Bahn hinabrutschen. Viele von den scheinbar schweren Fällen gehören heute zu den Stützen seines Betriebes. Es hat sich rumgesprochen an den Schulen, dass man mit Problemjugendlichen zum Maler Ullrich gehen kann. Und wenn es irgendwie geht, nimmt er einen Bewerber, wenn die Bereitschaft erkennbar ist, sich helfen zu lassen. "Der Großvater hat das auch schon gemacht, der Vater auch", sagt Ullrich, als sei es nichts Besonderes. Als eine Buchhalterin das hört und hinterm PC die Augenbrauen hebt, räumt der Chef ein: "Ja, es ist anstrengend, auch für die anderen Mitarbeiter." Ja, es sei schon zu handfestem Streit zwischen Gesellen und frechen Azubis gekommen, die nichts nichts sagen lassen wollten.

Ohne seine Frau würde Johannes Ullrich das nicht schaffen, sagt er. Sie ist Sonderschullehrerin, hat Sonderpädagogik studiert und ist die wichtigste Ratgeberin ihres Handwerkermannes geworden. Freilich, er braucht dazu mehr als seine Frau. Die Fördergesellschaft der Handwerkskammer in der Gewerbeakademie und eine Reihe weiterer Bildungsträger bieten ausbildungsbegleitende Hilfen an. "Ohne dieses Netzwerk ginge es nicht." Ullrich sagt über seine Auszubildenden auf dem Weg zum Berufsabschluss: "50 Prozent krieg ich durch."

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