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Atomkatastrophe

30 Jahre nach Tschernobyl: Das Leben in der Zone

Nik Afanasjew

Von Nik Afanasjew

Fr, 22. April 2016 um 07:31 Uhr

Ausland

Vor 30 Jahren ereignete sich im sowjetischen Akw Tschernobyl die größte Atomkatastrophe der Geschichte. Die Uhren sind in dem verstrahlten Gebiet stehen geblieben. Eine Reportage.

Sie ist in Tschernobyl geboren und hie...ja mit Dana, ihrer einzigen Gefährtin.  | Foto: William Veder
Sie ist in Tschernobyl geboren und hier geblieben: Baba Walja mit Dana, ihrer einzigen Gefährtin. Foto: William Veder
Die Fische tauchen als dunkle Flecken im regungslosen Kanalwasser auf. Bis zu einen Meter lange, bewegliche Flecken. Es werden mehr, immer mehr. Zu viele, um sie zu zählen. Über den Kanal führt eine Eisenbahnbrücke, deren Gleise im Nichts enden. Zwischen Stahlschwellen bleibt die Sicht nach unten frei, auf die Fische, es sind Karpfen. Der Schwarm wächst immer schneller. Unkontrollierbar, wild.

Einige hundert Meter weiter erhebt sich zwischen wuchtigen Industrieruinen ein Schornstein aus einem Betonsarg. Tschernobyl. Am 26. April 1986 explodierte wegen eines missglückten Sicherheitstests Reaktorblock 4 des ukrainischen – damals: sowjetischen – Atommeilers. Seither sind Tausende Menschen an den Folgen des Unglücks gestorben, vielleicht auch Hunderttausende, über die Opferzahlen wird gestritten. Unbestreitbar aber steht Tschernobyl weltweit für die Angst vor der radioaktiven Strahlung.

Wegen dieser Strahlung wurden 30 Kilometer rund um Reaktorblock 4 zum Sperrgebiet erklärt, in dem niemand leben sollte, eigentlich. Wegen der Strahlung hat seit 30 Jahren niemand die Fische im Kanal behelligt. Dabei gibt es jemanden, der nichts lieber tun würde.

"Ich habe für mein Leben gerne geangelt. Jetzt kann ich das nicht mehr." Baba Walja
Walentina Borissowna Kucharenko ist 77, sie ist in Tschernobyl geboren und dort geblieben, als der Name Synonym für ein monströses Unglück wurde. Mit ganzem Namen müsse sie niemand anreden, erklärt Kucharenko, als sie an einem warmen Frühlingstag in dicker Fellweste in ihrer Türschwelle auftaucht. "Baba Walja genügt." Oma Walja also. Schwerfällig geht sie ins Haus und setzt sich an ihren Küchentisch. An den Wänden mit Blümchentapete hängen Landschaftsbilder, auch ein orthodoxer Kalender. Baba Walja legt die Hände übereinander. "Ich habe für mein Leben gerne geangelt. Jetzt kann ich das nicht mehr." Die Katastrophe hat dafür gesorgt, dass es so viele Fische gibt wie nie zuvor, aber auch dafür, dass niemand sie essen darf. Nicht einmal diese bittere Ironie konnte Baba Walja aus der Zone forttreiben.

Immerhin, die Behörden lassen sie mittlerweile in Ruhe. Alle paar Wochen fährt ein Transporter herum und verkauft die nötigsten Lebensmittel, auch Post und ihre monatlich 90 Euro Rente werden ihr gebracht. Was sie sonst zum Leben braucht, zieht Baba Walja selbst, hinter dem Haus, in ihrem Garten. "Das Essen aus dieser Erde ist gut", sagt Baba Walja. Wie verseucht ihr Boden ist, weiß sie nicht und will es auch nicht untersuchen lassen. Wer mit einem Geigerzähler durch die Zone geht, stellt fest, dass die Strahlung sich nicht wie ein Teppich über die Erde gelegt hat, sondern fleckenartig. Wie die Fische im Kanalwasser.

Selbstsiedler werden jene genannt, die in der Zone leben

Baba Walja geht in den Garten, wo noch keine Kartoffeln und Tomaten wachsen, es ist noch zu früh. Es ist still, bis auf ein schrill aufsteigendes metallisches Geräusch, wie ein Fabrikalarm, der alle paar Sekunden ertönt. Es kommt von einer Messstation, die Werte zur Strahlung und zum Wetter erheben soll, aber nicht so recht funktioniert, wie es im Ort heißt. "Ich höre das gar nicht mehr", sagt Baba Walja. Um ihre Füße schleicht Hund Dana, ein kleiner Mischling mit glattem Fell und wachen Augen. Dann sagt Baba Walja, als würde ihr alles das gerade erst auffallen: "So lebe ich hier."

So lebt nicht nur sie, sondern die etwa noch 180 Samosely. Selbstsiedler, so werden jene genannt, die dauerhaft in der Zone leben. Fast alle sind alleinstehende Frauen jenseits der 70. Ihre Geschichten ähneln oft der von Baba Walja, sie erzählen sie gerne, denn sonst scheint die Zeit in der Zone stillzustehen. Ihre Männer seien vor allem an drei Ursachen gestorben, erklären sie: Strahlung, Suff, Stress. Fehlen würden die Männer manchmal schon. Doch andererseits, wie eines der alten Mütterchen es ausdrückt: "Männer sind anstrengend."

Baba Walja schlendert wieder ins Haus. Sie schaue Nachrichten, sei über aktuelle Ereignisse in der Ukraine informiert, habe dazu eine Meinung, erklärt sie. Aus ihrem Schlafzimmer mit den hoch aufgetürmten Decken holt sie eine Musikbox und steckt einen USB-Stick hinein. Es ertönt eine volkstümliche slawische Melodie. Dann ruft Baba Walja "Slawa Ukraine!", Ruhm der Ukraine – den Schlachtruf der Maidan-Revolution, aber auch ukrainischer Nationalisten. Etwas verlegen hebt Baba Walja den rechten Arm zum Hitlergruß, ruft wieder: "Slawa Ukraine!" Plötzlich fletscht Dana die Zähne, knurrt aggressiv, ist zum Kampf bereit gegen die Revolution. Baba Walja lacht.

So ganz ernst gemeint will sie diese Vorführung nicht verstanden wissen. Und doch stellen sie sich so dem Umbruch entgegen, Baba Walja und ihr Hund. Es ist nicht ihr Umbruch, sondern ein Ereignis aus dem Fernsehen, aus dem nur zwei Fahrstunden entfernten Kiew. Für Baba Walja, Kind der Sowjetunion, ist das ein anderer Planet.

Eine eingefrorene missglückte Versuchsanordnung

Die Zone ist eine eingefrorene missglückte Versuchsanordnung, in der die Uhren noch auf 1986 stehen. Der fatale Sicherheitstest in Reaktor 4 war ein Experiment, das schiefgegangen ist. So wie die gesamte Sowjetunion ein waghalsiges Experiment war, ein neues System, aus dem neue Menschen hervorgehen sollten, sozial und heroisch. Dass es gescheitert war, auch das symbolisierte das Reaktorunglück von Tschernobyl.

Am 1. Mai 1986 war die junge Schneiderin Walentina Kucharenko angeln. "Als ich wiederkam, war ein schwarzes Loch, wo vorher unser Haus war." Die Behörden hatten es mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht, mit allem Hab und Gut darin. Verspätet wurde Tschernobyl evakuiert, nachdem die Behörden zunächst vertuschten, beschwichtigten, beruhigten. Baba Walja unterdrückt Tränen.

Wenn sie von früher erzählt, spricht sie über ihren Kampf gegen die sowjetische Nomenklatura, die bisweilen so schwer zu greifen oder auch nur zu begreifen gewesen zu sein scheint wie der unsichtbare Feind, die Strahlung. Die Behörden erklärten ihr Haus für "schmutzig", das gängige Zonenwort für "radioaktiv verseucht", und sie mit ihrem Mann auf offener Straße stehen lassen. Sie gingen – und kamen nach wenigen Wochen wieder.

Baba Walja und ihr Mann arbeiteten als Liquidatoren, verluden verseuchte Erde, "immer mit dem Spaten in der Hand". Sie kämpften um Schadenersatz und bekamen schließlich den Wert ihres Hauses erstattet. Sie zogen in ein neues Haus in der Zone. Illegal. 1988 wurde auch dieses Haus zugeschüttet. Menschen sollten in Tschernobyl arbeiten, aber heimisch werden nicht mehr. Doch Baba Walja und ihr Mann blieben. Auch als die Behörden ihre Sachen auf die Straße stellten und das Haus vernagelten. "Heimat ist alles", sagt sie.

Baba Walja erzählt alles mit ruhiger Stimme, die erst erbebt, als sie zu den Tagen kommt, als sie für dumm verkauft wurde. "Niemand wusste etwas. Dann kam einer von der Partei und hat gesagt: Die wechseln am Kraftwerk die Ketten, alles in Ordnung. Was für Ketten? Da ist doch kein Panzer kaputtgegangen!" Einige Jahre später hätte sie den Funktionär wieder getroffen. "Da bin ich hin zu ihm und habe gefragt: Na, alles in Ordnung? Habt ihr die Ketten gewechselt gekriegt?"

"Ja, ich habe die Explosion gesehen. Es gab Rauch."

Alles änderte sich damals in einem Augenblick, um den sich seither das Leben dreht, und natürlich wurde es allen erst später klar. "Ja, ich habe die Explosion gesehen", erklärt Baba Walja und nickt. "Es gab Rauch." Sie sagt es beiläufig, als würde sie erzählen, wie sie einen Regenbogen gesehen hätte. Dann fügt sie hinzu: "Wir wussten ja nichts."

Ihr Mann hatte damals Dienst, als Elektroingenieur. "Er trank nicht. Das wurde ihm zum Verhängnis. Man muss doch trinken, gegen die Strahlung!" Sie sagt das in festem Glauben. Viele Liquidatoren haben damals Wodka bekommen, weil der angeblich die gesundheitlichen Folgen starker Strahlenbelastung mindert. Ob es nicht möglich war, diesen Dienst zu verweigern, ist eine Frage, die Baba Walja ebenso beantwortet wie viele der damals eingesetzten Liquidatoren, etwa eine Million Sowjetbürger sollen es gewesen sein: "So wurde bei uns damals einfach nicht gedacht."

Gestorben ist ihr Mann 2008. "Es ist nicht klar, ob es an der Strahlung lag", sagt sie und fügt leiser hinzu: "Hier ist er gestorben. In der Heimat." Es ist ihr persönlicher Sieg über das Schicksal, nicht fortgegangen zu sein. Zwei Kinder hat sie, beide leben in verschiedenen Landesteilen der Ukraine. Sie besuchen sie manchmal, die Musikbox haben sie ihr geschenkt. Die Tochter ist 57, ihr Mann ist bereits tot. Krebs. Auch er war Liquidator.

Die Samosely sind nicht die einzigen Menschen in der Zone. In der Stadt Tschernobyl, die vor dem Unglück 15 000 Einwohner hatte, halten sich unter der Woche bis zu 3000 Arbeiter auf. Sie übernachten auch dort, maximal zwei Wochen am Stück. Die Fluktuation sei groß, erzählen die wortkargen Männer, fast alle tragen Militäruniform. Die schwere Arbeit, die Angst um die Gesundheit, öde Abende, an denen es nichts zu tun gibt, außer doch zur Flasche zu greifen.

Diese Arbeiter sorgen dafür, dass der alte Sarkophag nicht endgültig zusammenbricht, die nach dem Unfall in aller Eile entstandene Schutzhülle um den zerstörten Reaktor. Und sie sorgen dafür, dass irgendwann der neue Sarkophag fertig wird, der neben dem havarierten Reaktor erbaut wird und 2017 auf Schienen über den alten geschoben werden soll. Die Fertigstellung wurde mehrfach verschoben. Mehr als zwei Milliarden Euro kostet das, Deutschland zahlt 300 Millionen. Die Sowjetunion, die hier noch allgegenwärtig ist, hatte die Liquidatoren zu Helden verklärt. Ein Denkmal zeigt Feuerwehrleute, die den brennenden Reaktor zugeschüttet haben. Die Gesichtszüge der Männer aus Beton sind vor Anstrengung verzerrt, sie gleichen siegreichen Soldaten, nur die Gewehre wurden durch Feuerwehrschläuche ersetzt. Jenen, die die Welt gerettet haben, steht auf einer Tafel.

Die Zukunft der Zone ist ungewiss. Mal wollte die ukrainische Regierung dort Atommüll anderer Länder lagern, für viel Geld. Dann schlug der Zeiger in die andere Richtung: ein Naturschutzgebiet sollte entstehen. Nach 30 Jahren, in denen sie vom Menschen in Ruhe gelassen wurden, gibt es hier Wölfe und Bären. Und Fische.

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