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Zischup-Interview

"Bis auf die Knochen abgemagert"

  • Mirija Dietsche, Klasse 9c & Wentzinger-Gymnasium Freiburg

  • Mo, 15. Juni 2020, 17:50 Uhr
    Schülertexte

75 Jahren liegt das Ende des Zweiten Weltkriegs zurück. Mirija Dietsche aus der 9c des Freiburger Wentzinger-Gymnasiums hat sich mit einer Zeitzeugin getroffen – der 84-jährigen Renate Dietsche.

Vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende.   | Foto: Marijan Murat (dpa)
Vor 75 Jahren ging der Zweite Weltkrieg zu Ende. Foto: Marijan Murat (dpa)
Zischup: Warum musste Ihre Familie fliehen?
Dietsche: Es war nicht selten, dass wir mitten in der Nacht im Radio den Kuckuck gehört haben. Wenn er in kurzen Abständen geschrien hat, mussten wir so schnell, wie es nur ging, in den Luftschutzkeller rennen. Das heißt, wir konnten nicht einmal ruhig schlafen, weil das Radio den ganzen Tag und auch in der Nacht an war. Wir waren alle sehr unterernährt und vor allem meine Mutter war gestresst in der Situation.
Zischup: Warum sind Sie nach Freiburg geflüchtet?
Dietsche: Bekannte von meiner Mutter haben uns damals zu einer vierwöchigen Erholung ins Münstertal eingeladen.

Zischup: Wie wollten Sie dann nach den vier Wochen weiter machen?
Dietsche: Wir wollten eigentlich wieder zurück nach Berlin in unsere Wohnung, aber Bekannte haben uns darüber informiert, dass nur noch Trümmer der großen Gebäude zu sehen sind. Also ging es mit großem Heimweh nach der Großstadt weiter. Ich habe Berlin und das Großstadtleben wahnsinnig vermisst, und dann haben die Leute hier noch diesen unverständlichen Dialekt geredet.
Zischup: Wie genau fand die Flucht von Berlin nach Freiburg statt?
Dietsche: Meine Mutter musste mit mir und meinen zwei Schwestern die Strecke im Zug fahren. Damals gab es noch keinen ICE, und als wir dann da waren, konnten wir das erste Mal seit langer Zeit wieder gut schlafen, weil es ein ruhiges Dorf war.

Zischup: Wie standen Sie in der gesamten Zeit zu ihren Geschwistern und Eltern?
Dietsche: Meine Schwestern und ich waren alle bis auf die Knochen abgemagert und mussten immer zusammen betteln gehen. Ich war damals so schüchtern und verängstigt, dass mir sogar das Betteln schwer gefallen ist. Mein Vater ist im Krieg gefallen. Das wurde uns mitgeteilt, kurz nachdem wir in Freiburg angekommen waren. Das hat meine Mutter noch mehr dazu gebracht, auf uns Knirpse aufzupassen.
Zischup: Gab es in Freiburg Probleme wegen ihrer Konfession?
Dietsche: Ja, da wir evangelisch waren und in einer streng katholischen Gegend gelandet sind. Vor allem in der Schule, zum Beispiel beim Religionsunterricht, da musste ich die Räume verlassen und warten bis wieder anderer Unterricht war, sogar im Winter. Mit zunehmendem Alter habe ich versucht, Kontakt mit den Leuten im Dorf aufzunehmen. Nach einiger Zeit haben sie es dann akzeptieren können.

Renate Dietsche ist schon 61 Jahre mit ihrem Mann verheiratet und nie nach Berlin zurückgekehrt.

Ressort: Schülertexte

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