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Ein Klassenraum für 180 Euro warm

  • Fr, 18. Oktober 2013, 10:49 Uhr
    Neues für Schüler

     

In keiner anderen deutschen Großstadt gibt es so viele Hauswächter wie in Berlin / Sie wohnen zu Spottpreisen in leerstehenden Schulen oder Krankenhäusern.

Mit dem Skateboard ins Bad: die Juristin Anja Wilfling  | Foto: Hildebrandt
Mit dem Skateboard ins Bad: die Juristin Anja Wilfling Foto: Hildebrandt
Wenn sie duschen will, nimmt sie das Skateboard, denn das Bad liegt am anderen Ende des langen Flurs. In ihrem neuen Zuhause hat sie Platz, viel Platz. Ihr Kleiderschrank ist begehbar. Eine Schatzkammer, halb so groß wie die von Paris Hilton, bloß nicht so vollgestopft. Sogar einen eigenen Basketballplatz gibt es hinterm Haus. Im Berliner Stadtteil Reinickendorf hat Anja Wilfling, 33, ihre Traumbleibe gefunden. Es ist ein Klassenzimmer im Gebäude einer ehemaligen Schule, dem Collège Voltaire. Ein Bullerbü im Grünen, das zu zerbröckeln drohte, als Lehrer und Schüler im Sommer 2011 in kleinere Räume umzogen.

180 Euro warm zahlt die Volljuristin im Monat. Sogar für Reinickendorfer Verhältnisse, wo der Quadratmeter weniger kostet als die 7,97 Euro des Berliner Durchschnitts, ist das ein Spottpreis. Anja Wilfling ist Hauswächterin, eine Bewohnerin auf Zeit, und keine Mieterin. Der Unterschied ist wichtig. Sie richtet sich nur so lange in ihrem Klassenzimmer ein, bis die Verwalterin, der Liegenschaftsfonds Berlin, einen Investor für das fünf Hektar große Areal gefunden hat. Drei Monate sind die Untergrenze, wenn Wilfling Glück hat, kann sie fünf Jahre bleiben. Bewachung durch Bewohnung, heißt die Formel, um leerstehende Immobilien vor Verfall und Vandalismus zu schützen.

Die holländische Firma Camelot, benannt nach dem Hof des sagenumwobenen König Artus von Britannien, macht es möglich. Seit 1993 setzt sie Menschen als Wächter in leerstehenden Krankenhäusern, Schulen, Polizeistationen oder Kirchen ein – erst nur in Holland, dann in Belgien, England, Frankreich, Irland und seit 2010 in der Bundesrepublik. Ein Burgturm ist das Logo der Firma, er symbolisiert Schutz und Wehrhaftigkeit. Eigenschaften, die Hausbesitzer besonders schätzen, wenn sie nicht selber in der Immobilie wohnen und das Gebäude schon länger leer steht. Denn es drohen Einbrüche, Vandalismus, Wertverlust. Sicherheitsfirmen, Hausmeister oder Alarmanlagen seien verhältnismäßig teuer und oft nicht besonders effizient, sagt Dirk Rahn, Business Development Director von Camelot Deutschland. Im Hamburger Büro koordiniert er den Einsatz der Hauswächter in Norddeutschland, ein Kollege in Düsseldorf ist zuständig für den Süden. Zusammen betreuen sie 250 Wächter in Berlin, Hamburg, Essen, Schifferstadt. Dazu kommen Immobilien auf dem Land in Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen. Rahn sagt, ein 24-Stunden-Service für ein Gelände von der Größe des ehemaligen US-Militärhospitals in Berlin-Dahlem koste 8000 bis 10 000 Euro im Monat. Dagegen fange der Camelot-Preis bei 195 Euro pro Gebäude ein.

Die Mieten ziehen an,
die Nomaden leben preiswert

In Berlin hat sich dieses Konzept bewährt. Als eine der ersten Firmen in Deutschland hat der Liegenschaftsfonds die Geschäftsidee der holländischen Immobilien-Ritter ausprobiert. Für das Land verwaltet Rahn 4500 leerstehende Immobilien, vom Kindergarten über die Fabrik bis zum ehemaligen Collège Voltaire im Berliner Bezirk Reinickendorf – einst Herzstück der Wohnsiedlung für französische Alliierte, eine private Schule und ein Kindergarten für Diplomatenkinder. Es ist ein Relikt aus der Zeit, als sich die Regierungen die Bildung ihrer Kinder noch etwas kosten ließen, daher Fußballplatz, Tischtennisplatten, Videoraum, Kantine und Parkett in der Aula. An ihre erste Begegnung mit dem Kleinod im Grünen erinnert sich Anja Wilfling noch genau: Laub hat Lichtschächte und Abflüsse verstopft, die Wände waren mit Spinnennetzen übersät, und vertrocknete Frösche lagen im Keller. Das war im Herbst 2011. Wilfling, passionierte Surferin, Skaterin und Snowboarderin, zog im ehemaligen Kindergarten ein. Anfangs war ihr noch ein bisschen mulmig zumute. Heute genießt sie die Vorzüge ihrer ungewöhnlichen Unterkunft. Das Grün. Die Stille. Und die Begegnungen mit den anderen Mitbewohnern.

Man trifft sich eher zufällig, in der Küche und an lauen Sommerabenden auf dem Hof. Das unterscheidet diese Gemeinschaft von anderen WGs. Alles kann, nichts muss. Es ist Platz genug, um sich aus dem Weg zu gehen. Sie sind zehn, die Jüngste Anfang zwanzig, der Älteste in den Fünfzigern. Alles Menschen, die auf der Reise sind. In diesem Biotop am Stadtrand hört man die Vögel gegen die Fensterscheiben prallen. Vor zwei Wochen hat es eine Blaumeise erwischt. Leo, Schauspieler, Barkeeper, Fitnesstrainer und Lyriker, hat sie standesgemäß im Garten beerdigt. Ein Gedicht für die letzte Reise hat er ihr auch geschrieben. Der 34-Jährige mit den bambi-braunen Augen und dem jesus-gewellten Haar tritt ans Fenster und rezitiert einen Vers. Partys darf Leo auf dem ehemaligen Schulgelände nicht mehr feiern, aber das, sagt er, störe ihn nicht. Es ist der Preis, den die Hauswächter zahlen müssen. Keine Kerzen, keine Kinder, keine Haustiere. So sind die Regeln.

Anja Wilfling wohnt nun in der Grundschule gegenüber. Sie ist umgezogen, weil der Kindergarten nun an einen russischen Träger verpachtet ist. Ein Klassenzimmer ist ihr Reich: Eine Skaterrampe, ein Bett, ein Schreibtisch. Mehr hat sie nicht mitgenommen, als sie aus der Dachgeschosswohnung im Haus ihrer Eltern auszog. Der Duft von Kreide hängt noch in der Luft. Die Wand hinter ihrem Bett hat sie mit einer Fototapete beklebt. Unter Palmen schläft es sich eben besser.

Inzwischen ist aus dem Wohnen auf Zeit ein Vollzeitjob geworden. Camelot hat die Volljuristin als Managerin für den Standort Berlin engagiert. Neben dem ehemaligen US-Militärhospital in Dahlem und dem Collège Voltaire hatte die Firma zwischenzeitlich noch ein ehemaliges Kinderkrankenhaus in Lichtenberg belegt. Jetzt hat eine Wohnungsbaugenossenschaft das Gelände gekauft. Und viele der 55 Bewohner stehen vor der Entscheidung: Zurück ins Hotel Mama oder Schlange stehen für ein WG-Zimmer? Das ist die Kehrseite des Nomadenlebens. Die Bewohner genießen nicht dieselben Rechte wie Mieter. Bei Bedarf kann Camelot sie jederzeit vor die Tür setzen.

Dennoch steht Anja Wilflings Diensthandy kaum still. Es gibt viele leerstehende Immobilien und eine steigende Nachfrage nach preiswertem Wohnraum. Deshalb ist Berlin die Hauptstadt der Hauswächter. Knapp hundert Immobilien-Hopper leben an der Spree. 1800 Bewerber stehen schon auf dem Sprung. Seit die Mieten in der Stadt anziehen und auch schon Durchschnittsverdiener aus luxussanierten Szene-Kiezen fliehen, sind preisgünstigere Alternativen gefragt. Unter den Interessenten sind aber nicht nur Studenten oder Künstler, sondern auch Handwerker oder Beamte. Gerade hat bei Camelot in Hamburg ein älteres Professoren-Paar nachgefragt. "Die wollen das Kommune-Leben ihrer Hippie-Zeit wieder aufnehmen", sagt Dirk Rahn.

Industriebrachen zu finden, ist an der Spree gar nicht so schwer. Früher als andere Städte hat Berlin solche Räume neu belebt, indem sie sie Künstlern oder Partyveranstaltern zur Zwischennutzung überließ. Doch zum Wohnen eignen sich nur wenige Objekte. Bei der Suche sind die Firmen auf Tipps angewiesen.

Karsten Kiekheben hat sich schon als Scout angeboten. Er lebt in einer windschiefen Villa auf dem Gelände des ehemaligen US-Militärhospitals in Dahlem. Eichhörnchen füttern, Rasen mähen, Kräuter pflanzen. Für den gelernten Forstwirt ist diese neue Bleibe wie geschaffen. Sich mit Provisorien zu arrangieren, ist er gewohnt. Er war sechzehn, als er mit Freunden ein Haus in Kreuzberg besetzt hat. Er sagt, das Leben sei eine Party gewesen. Heute ist es eine Baustelle. Der Treppenabsatz bröckelt. Kiekheben kramt sein Werkzeug hervor. Er lächelt zufrieden. "Ich bin zu meinen Ursprüngen zurückgekehrt", sagt er, "diesmal allerdings ganz legal."

Ressort: Neues für Schüler

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