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Eine zeitgenössische Écriture automatique

Bettina Schulte
  • Do, 09. März 2017
    Theater

Die Performance "Brain writes sounds" mit Annette Pehnt, Harald Kimmig und Ephraim Wegner im Freiburger E-Werk.

-  | Foto: BZ
- Foto: BZ
Mitten auf der Kammerbühne des Freiburger E-Werks sitzt ein am Kopf verkabelter junger Mensch. Er wird sich über eine geschlagene Stunde lang nicht bewegen. Er darf sich nicht bewegen, denn seine Gehirnströme werden aufgezeichnet und mit dem PC des Musikers und Medienkünstlers Ephraim Wegener kurzgeschlossen. Dieser produziert die Sounds dieses Gehirns als permanente Tonspur für Annette Pehnts und Harald Kimmigs einmalige Performance "Brain writes sounds".

Entstanden ist die künstlerische Zusammenarbeit an ungewöhnlichem Ort: Die Freiburger Schriftstellerin und der experimentelle Violinist haben sich als Artists in Residence beim Freiburger Exzellenzcluster BrainLinks-BrainTools aus ihrer Perspektive ein Bild von der Arbeit der dort forschenden Neurowissenschaftler gemacht. Auf den ersten Schritt einer versuchten Annäherung – einer Lesung von Annette Pehnt im Kommunalen Kino – folgte nun der gewagte zweite: Die beiden Künstler improvisierten mit ihren jeweiligen Instrumenten – der Violine und dem PC – zur optisch-akustischen Darstellung der Hirnströme. Ob eine "Poetik des Gehirns" ästhetisch erfahrbar gemacht werden könnte: Diese Frage liegt ihrer Performance zu Grunde.

Sie ist schwer zu beantworten. Das materielle Substrat der Denk- und Bewusstseinsprozesse entzieht sich künstlerischer Darstellung: Über diese Erfahrung hat Annette Pehnt bei ihrem Auftritt im Kommunalen Kino – unter dem Motto "Ich habe mich in mein Gehirn verliebt" – eindrücklich gesprochen. Live auf der Bühne ging es nun darum, durch die live erhobenen Messdaten inspirierte kreative Prozesse – beim Schreiben, beim Musizieren – zu demonstrieren. Harald Kimmig ist ein geübter Improvisator, der sein Talent, auf Impulse von außen – seien es malerische, tänzerische oder literarische – zu reagieren, schon oft beeindruckend unter Beweis gestellt hat. Annette Pehnt hingegen probiert sich als Schriftstellerin in der Regel in der Einsamkeit der Schreibsituation aus. Hier nun ist das ganz anders: Pehnt tippt in ihren PC hinein, was ihr spontan in den Sinn kommt: Sätze, Bilder, Vergleiche, die sich dem Sinn und der allgemeinen Logik zunächst entziehen. Oder wie soll man solche Sätze verstehen: "Eingelegte Vorgänge sind nicht gut für Katzen"?

Es ist höchst erstaunlich, welche Kapriolen das sprachgeübte Hirn der Autorin binnen 60 Minuten zu schlagen in der Lage ist: Triviale Formulierungen und abgeschmackte Bilder sind nicht darunter. Und es ist spannend, der Entstehung einer Art zeitgenössischer – in Echtzeit teilbarer – Écriture automatique zu folgen. Wie allerdings dieser kreative Prozess funktioniert, bleibt das Rätsel von Annette Pehnts Gehirn. Sich dermaßen ungeschützt dem Publikum auszusetzen, nötigt größten Respekt ab. Bravourös.

Ressort: Theater

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Do, 09. März 2017: PDF-Version herunterladen

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