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Porträt

Thomas Müller - Raumdeuter mit Steckerlbeinen

René Kübler
  • Mi, 06. Juli 2016, 08:49 Uhr
    Fußball-EM

     

Noch ist Thomas Müller bei dieser Europameisterschaft kein Tor gelungen. Doch seine Fleißarbeit ist für die Mannschaft von großem Wert, wie René Kübler analysiert.

Fußballprofi mit großem Unterhaltungspotenzial: Thomas Müller   | Foto: dpa
Fußballprofi mit großem Unterhaltungspotenzial: Thomas Müller Foto: dpa
ÉVIAN. Mit dem Timing hatte Thomas Müller bei dieser Europameisterschaft bisher so seine Probleme. Jetzt ist er rechtzeitig zur Stelle. Oliver Bierhoff will gerade damit beginnen, sich zu Müllers Torlosigkeit zu äußern, da hüpft der Angreifer von rechts zu ihm aufs Podium. Die Hände lässig in den kurzen Hosen verstaut, das Lausbubenlächeln bereits einsatzbereit, greift Müller umgehend ins Geschehen ein. "Ich bin noch gar nicht richtig da und schon geht’s um mich."

Gleich mal ein kleiner Witz zum Warmwerden. Das ist Thomas Müller. Teammanager Bierhoff hat als Gesprächspartner ausgedient. Er wird jetzt nicht mehr gebraucht. Müllers Bühnenpräsenz vereinnahmt. Etwaige Nebenleute werden zu Statisten, wenn der 26-Jährige Fußballprofi in seinem Zweitjob als Unterhaltungskünstler tätig wird.

"Der Thomas redet viel", ist von Teamkollegen und Trainern häufig zu hören. Manchmal auch ein bisschen zu viel. Es soll nicht böse klingen. Müller ist beliebt in seinen Mannschaften. Späßchen, erklärt er, seien wichtig, um alle in das Seelenleben der Mannschaft zu integrieren. Der Entertainer wirkt als Integrator, auch wenn er nicht still halten kann, wenn anderen mal ein bisschen nach Ruhe und Rückzug ist. "Ich bin kein Typ, der gerne rumsitzt", sagt er.

Ein hyperaktives

Kraftpaket

Steht gerade mal kein Fußballspiel an, behilft sich das Energiebündel aus dem bayerischen Pähl mit Basketball, Golf oder Tischtennis. Auch während der EM ist sein innerer Antrieb enorm. Dass er im Vergleich zu den vielen Kraftpaketen, die im Profifußball unterwegs sind, körperlich eher hemdsärmelig daherkommt, könnte dieser Hyperaktivität geschuldet sein. Müller selbst hat eine andere Erklärung parat. "Mein Verbrennungsmotor funktioniert nicht ganz ökonomisch", vermutet er: "Ich esse viel und habe wenig auf den Rippen." Er müsse auch nicht seinen Bizeps aufpumpen, nur damit der Bizeps groß sei. Das hat Müller nicht nötig. Seine Steckerlbeine, wie er sie selbst nennt, tragen ihn, wohin er will. Oft in Regionen, in denen ihm kein Gegenspieler zu folgen in der Lage ist. Selbst er, der Bundestrainer, wisse bisweilen nicht, wo Müller im nächsten Moment wieder hinlaufe, hat Joachim Löw einmal gesagt.

Insgesamt ist das Phänomen Müller recht schwierig zu erklären. Raumdeuter hat er sich selbst einmal genannt. Das trifft es vielleicht am besten. Müller verfügt über die Gabe, intuitiv den richtigen Weg zu finden: zum Ziel, zum Tor. "Er hat ein Näschen", sagt Löw. Hätte er es nicht, wäre er nicht einer der zuverlässigsten deutschen Torschützen. Müller würde womöglich sogar verspottet werden wegen seiner unorthodoxen Herumrennerei auf dem Platz. So aber ist er zu einer Marke im Weltfußball geworden.

32 Tore hat Thomas Müller in 76 Länderspielen geschossen – bei der WM 2010 in Südafrika wurde er sogar Torschützenkönig. Selbst wenn es in Spielen mal schwierig wurde, es gar nicht lief, auch nicht für ihn selbst: Getroffen hat er meist doch irgendwie.

Bei dieser Europameisterschaft ist das anders. Am Donnerstag spielt die deutsche Mannschaft im Halbfinale gegen Frankreich. Kaum zu glauben, dass sie es so weit geschafft hat, ohne von einem einzigen Müller-Tor zu profitieren. Dass sich diese Selbstverständlichkeit von heute auf morgen verflüchtigen würde, damit war nicht zu rechnen.

Seit dem ersten Gruppenspiel gegen die Ukraine muss Müller nun erklären, was nicht zu erklären ist. Seine Eigenanalyse hat ergeben, dass ihm nicht sonderlich viel vorzuwerfen ist. Da sei diese eine Chance im Spiel gegen Nordirland gewesen. "Da hätte ich es besser machen können", räumt er ein. Ansonsten aber könne er sich mit seinen Leistungen ganz gut arrangieren. Andere können das auch. Die Plädoyers in der Causa Müller fallen durchweg zugunsten des Angeklagten aus. "Ich bin maximal mit ihm zufrieden", betont Joachim Löw wieder und wieder. Allein Müllers Fleißarbeit für die Defensive sei von großem Wert. Und überhaupt. Es gebe keinen Grund, sich Sorgen zu machen: "Ich glaube an seine Fähigkeiten."

Zuletzt gegen Italien, im Viertelfinale, hatte Müller zumindest mal wieder aussichtsreich aufs gegnerische Tor geschossen. Wobei nicht abschließend geklärt werden konnte, ob Alessandro Florenzi mit seinem halsbrecherischen Hechtsprung tatsächlich das Ende der Müller-Krise vereitelte. Oder ob der Ball ohnehin am Tor vorbeigeflogen wäre. Eindeutig geklärt ist, dass Müller später im Elfmeterschießen recht kläglich gescheitert ist. Er hat den Torwart nicht wie früher selbstbewusst ausgeguckt, sondern ihm den Ball recht uninspiriert in die Arme geschoben.

Arbeiten, damit es

wieder scheppert

Glaubt man Thomas Müller, so ist ihm das alles relativ egal. Natürlich treffe er weiterhin gerne. Und er werde hart daran arbeiten, "dass es auch bei mir wieder scheppert". Abhängig von seinen Toren sei er aber keineswegs. Sie seien nicht sein Antrieb, nicht – um im Bild zu bleiben – sein Benzin. "Höchstens vielleicht der Speziallack, der nach außen gut aussieht."

Die deutsche Mannschaft hat sich bisher auch ohne Müller-Tore ganz gut durchs Turnier geschlagen. Andere sind eingesprungen. Mario Gomez vor allem, der mit zwei Toren bisher erfolgreichste Angreifer. Doch Gomez wird gegen die Franzosen und auch in einem möglichen Finale fehlen. Er ist verletzt. Und Müller gilt als heißester Anwärter auf den Job im Sturmzentrum, dort wo er vielleicht die eine oder andere Chance mehr bekommt, seine persönliche Bilanz aufzuhübschen.

"Ich habe das Gefühl, wenn wir es wirklich brauchen, dass er dann auch ein Tor macht", prophezeit Joachim Löw. Es würde passen zu diesem unberechenbaren Thomas Müller, von dem alle sagen, er sei trotz der fehlenden Tore kein anderer geworden.

Er selbst behauptet das übrigens auch: "Ich rede genauso viel wie sonst. Und noch mehr." Das beruhigt.

Ressort: Fußball-EM

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Mi, 06. Juli 2016: PDF-Version herunterladen

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