"Für immer frei sein"

ZISCHUP-INTERVIEW mit Udo Kiesewetter, der 1988 aus der Deutschen Demokratischen Republik floh – mit dem Fahrrad.  

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Udo Kiesewetter heute Foto: Privat

Ein Jahr lang plante er, dann wagte Udo Kiesewetter die Flucht aus der DDR in die BRD. Sophie Kiesewetter, Schülerin der Klasse 9b des Schulzentrums Oberes Elztal in Elzach, hat sich mit ihm darüber unterhalten. Udo Kiesewetter ist ihr Onkel.

Zischup: Wieso sind Sie geflohen?

Kiesewetter: Man hatte keine Meinungsfreiheit, keine Reisefreiheit und Versorgungsmängel. Außerdem gab es Wohnungsmangel, und das DDR-Geld war nichts wert.

Zischup: Wohin sind Sie geflüchtet?

Kiesewetter: Die Flucht begann in meinem damaligen Wohnort Holzhausen. Es ging mit dem Fahrrad zum Leipziger Hauptbahnhof, dann weiter mit dem Zug über Dresden und Prag nach Bratislava. Dann mit dem Fahrrad nach Ungarn hinein, und dort schlug ich mich in gut zwei Tagen über Felder und Wälder sowie durch Sümpfe bis zur österreichischen Grenze durch. Ich fuhr mit meinem Fahrrad auf einer Straße bis nach Andau in Österreich, nachdem ich stundenlang durch den Wald, über Wiesen und Felder gelaufen bin. Dort blieb ich jedoch nicht, sondern fuhr mit einem Linienbus nach Wien. Am nächsten Tag fuhr ich mit dem Zug in die alte BRD und fuhr von dort nach Gießen ins Aufnahmelager. Dort war ich zur Erledigung verschiedener Formalitäten vier Tage und fuhr dann weiter zu meiner Großmutter nach Hamm in Westfalen, die mir bei einer Bekannten ein Zimmer besorgt hatte.

Zischup: Wie lange hatte es gedauert, bis Sie flüchten konnten?

Kiesewetter: Die Vorbereitungen haben ungefähr ein Jahr gedauert. Zuerst einmal suchte ich eine Möglichkeit, aus der DDR illegal zu flüchten, dann besorgte ich mir Kartenmaterial und ein gutes Fernglas. Circa vier Wochen vor der Flucht beantragte ich ein Visum für Ungarn für einen angeblichen Urlaub am Balaton, das ist der Plattensee.

Zischup: Wie konnten Sie überleben?
Kiesewetter:
Ich hatte mir ein paar Getränkeflaschen mitgenommen und etwas zu essen eingepackt. Nach zwei Tagen war aber fast alles aufgebraucht. Wenn man aber solch eine Aktion durchführt, dann denkt man nicht nur an Essen oder Trinken.

Zischup: Und was war das für ein Gefühl?
Kiesewetter:
Meine Gefühlslage wechselte in diesen Tagen ständig. Nach einem leicht wehmütigen inneren Abschied von Leipzig folgte die Hoffnung und zugleich die Angst, nicht beziehungsweise doch erwischt zu werden. Nach zwei Tagen setzte eine leichte Ernüchterung ein. Dann, nachdem ich die wahre Grenze mit den drei Zäunen entdeckt hatte, die große Hoffnung, es schaffen zu können. Und nachdem ich mir sicher war, dass ich in Österreich in der Freiheit bin, war ich nur noch unendlich glücklich! Der gesamte Aufwand hatte sich gelohnt.

Zischup: Wem konnten Sie sich anvertrauen?

Kiesewetter: Da in der DDR die Überwachung der Menschen lückenlos war, musste man sich genau überlegen, wem man Geheimnisse anvertrauen konnte. Wenn mein Plan im Vorfeld an die falschen Leute gelangt wäre, hätte man mich sofort verhaftet und für zwei Jahre eingesperrt. Und als politischer Häftling hätte man es im Gefängnis der DDR mehr als schwer gehabt. Bei meiner Mutter war ich mir sicher, dass sie es nicht weiter erzählt, und auch mein damals bester Kumpel, der selbst Ausreiseantragssteller war, wusste von meinem Vorhaben. Meine Mutter versteckte diverse Sachen in ihrem Keller unter Brennholz, da sie ja nicht wusste, ob die Stasi perspektivisch ihre Wohnung durchsucht.

Zischup: Was für Auswirkungen hatte es auf Ihre Familie?

Kiesewetter: Es hatte die Auswirkung, dass fast alle meine Verwandten vom Ministerium für Staatssicherheit zum Verhör vorgeladen wurden. Solch ein Verbrechen gegen die DDR-Gesetze konnte man eigentlich im Vorfeld niemandem sagen, da jeder Mitwisser mich wegen Vorbereitung zur Republikflucht hätte anzeigen müssen.

Zischup: Was für Erwartungen hatten Sie?

Kiesewetter: Ich hatte die Erwartung, ein Leben in Freiheit und mit ordentlichem Geld für ordentliche Arbeit führen zu können. Wie ich bereits erwähnte, war das DDR-Geld nichts wert. Für dieses bekam man im Ausland nichts zu kaufen! Ich wollte reisen, mir die Welt anschauen und meine eigene Meinung frei sagen können.

Zischup: Sind Ihre Erwartungen eingetroffen?

Kiesewetter: Meine Erwartungen sind im Jahr 1988 absolut eingetroffen. Ich fand relativ schnell Arbeit. Mit dem verdienten Geld konnte ich mir dann eine Wohnung mieten und einrichten. Ich lebte glücklich und zufrieden. 18 Monate später fiel dank vieler mutiger Menschen die Berliner Mauer.

Zischup: Was haben Sie nach dem Mauerfall gemacht?

Kiesewetter: Im Jahr 1993 zog ich aus dem Ruhrgebiet wieder zurück in meine alte Heimat, da die Gründe, für die ich Leipzig verlassen hatte, weg waren.

Zischup: Bereuen Sie die Flucht?

Kiesewetter: Ein ganz klares: Nein! Ich war damals so glücklich, hatte anschließend Erlebnisse wie zum Beispiel die noch geschlossene Berliner Mauer vom Westen aus zu sehen. Vielleicht war das ein winziger Wegbereiter der dann später folgenden Demonstrationen. Denn wenn sich niemand gegen die Diktatur gewehrt hätte, dann wäre im Osten eventuell noch alles beim Alten.
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