Frankreich

Höchststrafe für Arzt in Frankreich wegen hundertfachen Kindesmissbrauchs: "Wer hat das zugelassen?"

Trotz des harten Urteils gegen einen Arzt wegen massenhaften Missbrauchs beklagen Opfer, dass die Gesundheitsbehörden den Täter nicht früher stoppten. Wie konnte das System derart versagen?  

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Vor dem Gericht warten Menschen auf das Urteil im Missbrauchsprozess.  | Foto: Mathieu Pattier (dpa)
Vor dem Gericht warten Menschen auf das Urteil im Missbrauchsprozess. Foto: Mathieu Pattier (dpa)

Für viele der 299 Opfer, die ein Klinikarzt in Frankreich oft bereits vor Jahrzehnten im Kindesalter sexuell missbraucht hat, ist der Leidensweg mit der Verurteilung des Mediziners nicht zu Ende. Zwar verhängt das Gericht im bretonischen Vannes nach einem Prozess, der ganz Frankreich erschüttert hat, mit 20 Jahren Haft die Höchststrafe gegen den pensionierten Chirurgen Joël Le Scouarnec (74). Die Aufarbeitung der psychischen Schäden durch den Missbrauch aber dauert für etliche Betroffene an. Außerdem fehlt ihnen eine nachvollziehbare Erklärung der Gesundheitsbehörden, weshalb diese den Arzt trotz Hinweisen nicht viel früher stoppten.

"Wie viele weitere Le Scouarnec wurden von der Ärztekammer geschützt?", heißt es auf einem Banner von Demonstranten vor der Verkündung des Urteils in Vannes."Wer hat das zugelassen?", steht auf einem anderen Schild von Opfervertretern, "Hört uns zu!" lautet eine weitere Forderung. In einer langen Menschenkette tragen Demonstranten an einer langen Schnur hängend Schilder mit den Namen von Opfern bis vor das Gerichtsgebäude.

Erster Hinweis vom FBI schon 2004

Die Empörung ist verständlich, denn einen ersten Hinweis wegen des Besitzes kinderpornografischer Abbildungen durch den Mediziner gibt es bereits 2004 von der amerikanischen Polizeibehörde FBI. Ein Jahr später führt dies zwar zur Verurteilung des Arztes zu einer Bewährungsstrafe - und einzelne seiner Kollegen schalten deshalb auch die Gesundheitsbehörden ein, weil sie Le Scouarnec bei der Behandlung von Kindern fehl am Platz sehen. Am Ende aber gibt es keinerlei disziplinarische Konsequenzen für den Chirurgen, der damals zu einer anderen Klinik wechselt. Angesichts des Ärztemangels auf dem Lande drückt man wohl lieber ein Auge zu.

Das erschütternde Ausmaß des Missbrauchs durch den Arzt wird erst 2017 durch die Anzeige einer Nachbarin offenbar, an deren sechsjähriger Tochter der Mediziner sich im Garten verging. Bei Durchsuchungen stoßen die Fahnder auf rund 300.000 Fotos von Kindesmissbrauch sowie zahlreiche Tagebücher, in denen der Arzt seine jahrzehntelangen Taten voller perverser Details festhielt. Die Auswertung führt die Polizei an ihre logistischen und psychischen Grenzen - die leitende Ermittlerin, die bei ihrer Arbeit in Abgründe blickte, ist seit drei Jahren krankgeschrieben.

Gesetz lässt lebenslange Haft nicht zu

In der Urteilsbegründung betont die Vorsitzende Richterin die Gefährlichkeit des Chirurgen und die hohe Rückfallgefahr - und geht auch auf die Forderung von Opfern ein, dass der Arzt nie mehr das Gefängnis verlassen sollte. Die Höchststrafe für Sexualstraftaten betrage in Frankreich 20 Jahre Haft, auch die hohe Zahl von Opfern lasse eine weiterreichende Strafe nicht zu, sagt sie.

Mit dem späten Eingeständnis der Ärztekammer, die vor Gericht eigenes Versagen im Umgang mit dem Chirurgen eingeräumt hat, geben sich viele der Opfer längst nicht mehr zufrieden und fordern Konsequenzen. Eine Opfergruppe meinte in einem Schreiben an das Gesundheits- und Justizministerium, dass dies "nicht nur der Fall eines Mannes" ist: "Es ist der Fall eines Systems, das es zugelassen hat, dass sich diese Verbrechen so lange wiederholen. Er enthüllt eine Kette von institutionellem Versagen, ignorierten Warnungen, verwässerten Verantwortlichkeiten und komplizenhaftem Schweigen."

Opfer fordern Schutzmaßnahmen

Die Opfer beklagen, dass sich trotz dieses wohl größten Prozesses um Kindesmissbrauch in Frankreich "nichts bewegt". Weder gebe es eine "Strukturreform", noch eine "nationale Mobilisierung", noch ein "starkes Signal". In den Gesundheitseinrichtungen habe sich nichts geändert. "Kein Warnsystem, keine Meldepflicht, keine verstärkten Schutzmaßnahmen."

Die Opfergruppe forderte die Einrichtung einer Sonderkommission, um Lehren aus dem Fall zu ziehen und die Prävention von Kindesmissbrauch zu verbessern. Am Tag des Urteils kündigte Frankreichs Gesundheitsminister Yannick Neuder Schritte in diese Richtung an, es müsse ein "Nie wieder" geben, sagte er dem Sender France Info.

Schlagworte: Gisèle Pelicot, Yannick Neuder, Joël Le Scouarnec

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