"Ich verteidigte mein Heim zwei Wochen lang"

ZISCHUP-INTERVIEW mit dem Ägypter Ahmed Mohsen, der über die Tage der Revolution und deren Auswirkungen auf seine Familie spricht.  

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„Mein schlimmster Moment war am ...ild entstand in jener Nacht  in Kairo.  | Foto: dpa
„Mein schlimmster Moment war am 28. Januar, als ich die Polizeistation brennen sah“, sagt Ahmed Mohsen – dieses Bild entstand in jener Nacht in Kairo. Foto: dpa

Der Aufstand in Ägypten gegen das Regime und den ehemaligen Machthaber Muhammad Husni Mubarak ist mehr als ein Jahr her, aber die Auswirkungen halten noch an. Eric Harder, Schüler der Klasse 8d des Albert-Schweitzer-Gymnasiums Gundelfingen, hat Ahmed Mohsen, einen engen Freund der Familie, per Mail zu den Ereignissen befragt.

Zischup: Könntest du bitte dich und deine Familie vorstellen.
Ahmed Mohsen: Ich bin Inhaber einer Handelsorganisation in Alexandria. Ich bin verheiratet und habe drei Kinder: Lujaina ist zwölf Jahre alt, in der 6. Klasse auf einer britischen Schule, spielt Klavier und ist eine großartige Malerin. Yasmine ist zehn, in der 4. Klasse und auf derselben Schule, spielt Basketball und liebt es zu tanzen. Youssef ist dreieinhalb Jahre alt, und auf einer französischen "Spiel"-Schule. Er liebt Fußball und Cartoons.
Zischup: Nun zu den Geschehnissen in Ägypten. Wie kam es zur Revolution?
Mohsen: Die Schlagwörter waren "Freiheit, Brot und soziale Gerechtigkeit". Brot, als das Symbol für Armut, 40 Prozent der Ägypter leben unter der Armutsgrenze.
Zischup: Wie hast du die schwierigen Tage der Revolution erlebt?
Mohsen: Es war beängstigend in den ersten zwei Tagen, in denen wir in unserem Haus blieben. Ich bin einmal auf die Straße gegangen, 500 Meter von meinem Haus weg ist die größte Polizeistation von Alexandria. Sie war komplett abgebrannt. Das war ein Schock für mich. Später fand ich heraus, dass die meisten Stationen in Alexandria ausgebrannt waren. Gefängnisse wurden geöffnet und über 23 000 Kriminelle sind ausgebrochen. Es war ein Plan der Regierung, Panik zu verbreiten.
Zischup: War es sehr gefährlich, sich in den Straßen aufzuhalten?
Mohsen: Natürlich. Jeden Tag haben wir Schüsse gehört. Dementsprechend waren die Schulen geschlossen. Es wurde eine Ausgangssperre von 16 bis 8 Uhr verhängt.
Zischup: Wart ihr in Lebensgefahr?
Mohsen: Ja, fünf Wochen lang habe ich niemandem aus meiner Familie erlaubt, vor die Tür zu gehen. Aber ich war täglich im "People’s Citizens Committee", einer Art Bürgerwehr. Viele unschuldige Bürger aus meiner Nachbarschaft und anderen Orten in Ägypten wurden von Kriminellen erschossen, während sie ihre Häuser schützten.
Zischup: Hättest du deine Familie im Falle eines Angriffes beschützten können?
Mohsen: Wie ich bereits sagte, war ich täglich im Bürgerkomitee, um unsere Nachbarschaft zu schützen. Jeder Mann hatte eine Waffe, einen Stock, eine Eisenstange, auch ein Messer zur Selbstverteidigung in den Straßen oder vor den Häusern, um sie vor den Kriminellen zu schützen, die Panik verursachen wollten. Es gab keine Polizei vom 28. Januar bis zum 1. März. Wir mussten uns selbst schützen. Wir hatten durchschnittlich jede Nacht von 17 bis 7 Uhr morgens 120 Männer und Jugendliche in unserer Straße postiert. Wir haben 44 Diebe und Ausbrecher gefangen. Wir haben sie dem Armeestützpunkt übergeben.
Zischup: Wie hast du die Situation deinen Kindern erklärt?
Mohsen: Meinen älteren Töchtern Lujaina und Yasmin habe ich es sehr deutlich erklärt. Sie haben auch die Nachrichten im Fernsehen gesehen. Sie haben die Situation verstanden. Sie hatten große Angst vor dem Klang der Schüsse. Mit meiner Frau Rasha zusammen habe ich versucht, die Kinder zu unterstützen und nach einer Woche hatten sie sich daran gewöhnt. Rasha hat die Kinder für fünf Wochen großartig zu Hause beschäftigt, mit Lernprogrammen, Malstunden, Lesen, Fernsehen. Youssef war zu jung, um zu verstehen was los ist, aber er hat gespürt, dass etwas Merkwürdiges passiert.
Zischup: Waren Freunde von dir in Gefahr oder wurden sogar verletzt?
Mohsen: Ein alter Schulfreund wurde erschossen, während er in einer Nachbarschaftswache eingeteilt war. Genau wie wir es jeden Tag machten, haben sie Autos angehalten, Führerschein und Personalien überprüft und nach Waffen gesucht. Ein Auto war voll mit gestohlenen Waffen der Polizei. Der Fahrer versuchte, zu entkommen. Er schoss mit einer Neun-Millimeter-Pistole, mein Freund wurde getroffen und war sofort tot.
Zischup: Wenn du zurücksiehst, was war dein schlimmster Moment?
Mohsen: Mein schlimmster Moment war am 28. Januar, als ich die Polizeistation brennen sah und die Kriminellen mit Gasbomben in den Händen durch die Straßen rannten. Ich bekam panische Anrufe von Verwandten, dass ihre Nachbarn verletzt sind. Ich hatte Angst um die Sicherheit meiner Familie. Aber nach einer sehr schlechten Nacht riss ich mich zusammen und verteidigte mein Heim zwei Wochen lang und bin jetzt Experte darin.
Zischup: Wie fühlen sich deine Kinder heute? Gehen sie wieder in die Schule?
Mohsen: Seit März 2011 gehen sie wieder in die Schule. Wir sind am 11. Februar 2012 alle zur Friedensfeier auf die Straße gegangen und in den folgenden Tagen war ich überrascht, dass die Kinder sich gegenseitig angerufen haben. Sie haben sich getroffen und begonnen, den Bürgersteig zu bemalen. Sie wollten ihre Straßen schöner aussehen lassen. Das ist nur ein Symbol um zu zeigen, wie sie über das Geschehene denken.
Zischup: Wie fühlt ihr euch heute, ist alles wieder "normal"?
Mohsen: Nein. Ich würde sagen, wir sind bei 50 bis 60 Prozent Normalzustand. Immer noch hat die Polizei keine Kontrolle über die Stadt. Es gibt Entführungen, um Lösegeld zu fordern, es gibt bewaffnete Überfälle. Das ist alles neu für die ägyptische Gesellschaft. Ich glaube, wir brauchen noch ein Jahr bis zur Normalität.
Zischup: Wird die Revolution deinen Kindern eine gute Zukunft ermöglichen?
Mohsen: Ja, ich bin zuversichtlich. Aber es wird keine unmittelbare Auswirkung geben. Ich glaube, wir brauchen zehn bis 15 Jahre, um die wirklichen Änderungen zu sehen; die Änderung im Bildungswesen, die Beseitigung der Bürokratie und so weiter. All das wird meinen Kindern eine Zukunft ermöglichen, die besser ist als meine.

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