Interview

Konfliktforscher zum Fall Luise: "Kinder, die getötet haben, brauchen eine intensive und lange psychologische Betreuung"

Holger Spierig

Von Holger Spierig (epd)

Mi, 15. März 2023 um 19:57 Uhr

Panorama

Eine 12- und eine 13-Jährige sollen in Nordrhein-Westfalen ein gleichaltriges Mächen erstochen haben. Strafmündig sind die Tatverdächtigen nicht. Der Konfliktforscher Andreas Zick findet das richtig.

Nach dem Tod einer Zwölfjährigen aus Freudenberg sind laut Konfliktforscher Andreas Zick "eine intensive und lange psychologische Betreuung und ein Therapieangebot" für die Angehörigen der Opfer sowie für die mutmaßlichen jungen Täterinnen nötig. Eine Herabsenkung der Strafmündigkeit, die in Deutschland ab einem Alter von 14 Jahren beginnt, hält der Leiter des Instituts für Interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld nicht für sinnvoll.

BZ: Mit dem getöteten Mädchen aus Freudenberg rückt das Thema Gewalttaten von Kindern in den Fokus. Wie verbreitet ist es, dass von Kindern tödliche Gewalt ausgehen kann?
Zick: Mittlerweile haben die angeschuldigten Kinder offensichtlich die Tat gestanden. Es sind in Deutschland extreme Einzelfälle und Ausnahmen, auch wenn wir uns an das Tötungsdelikt an einer 15-Jährigen durch zwei 13- und 14-jährige Kinder in Salzgitter im Juni 2022 erinnern. In anderen Ländern gibt es weitaus mehr Fälle. In den USA ist es deshalb auch etwas genauer untersucht. Dort kommen Kinder leichter an Waffen, und daher gibt es dort einige Fälle. Auch aus Hochrisikogebieten und Kriegsgebieten kennen wir den Fall von Homiziden durch Kinder, etwa durch Kindersoldaten.

BZ: Was können Ursachen für Gewaltverbrechen von Kindern sein?
Zick: Was aus der systematischen Aufarbeitung von Einzelfällen bekannt ist, ist, dass kaum von den Einzelfällen auf andere Fälle verallgemeinert werden kann. Notwendig ist eine genaue Aufarbeitung der entwicklungspsychologischen Ursachen, der Lebensgeschichte, der sozialen Verhältnisse und Umstände. Im vorliegenden Fall muss auch die Entwicklung der gemeinschaftlichen Idee der beiden Kinder betrachtet werden, die ihr Opfer gequält und getötet haben.

BZ: Gibt es bei Kindern Faktoren, die extreme Gewalt befördern?
Zick: Traumatisierte Kinder, die etwa massive Gewalt oder Missbrauch erfahren haben, oder Kinder aus auseinandergebrochenen Familien tauchen in Tätergruppen auf. Das gilt auch für Kinder mit Entwicklungsdefiziten, die sich massiv missachtet und ausgegrenzt fühlen. Sie haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, Gewaltfantasien zu entwickeln und sie auszuleben. Auch das Verhältnis zum Opfer, Hass und Wut spielen eine Rolle. Bei dem getöteten Mädchen aus Freudenberg könnte auch der anscheinend gemeinsame Plan der mutmaßlichen Täterinnen ein wichtiger Faktor gewesen sein.
Andreas Zick (61) ist Professor für Sozialisation und Konfliktforschung und leitet seit April 2013 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld.

"Traumata setzen oft später ein."

BZ: Bis zum Alter von 14 Jahren sind Kinder in Deutschland strafrechtlich nicht zu belangen. Was ist Ihrer Erfahrung nach an Maßnahmen und Behandlungen nötig, wenn Kinder Verbrechen begehen?
Zick: Kinder, die getötet haben, brauchen eine intensive und lange psychologische Betreuung und ein Therapieangebot, ebenso wie die Angehörigen der Opfer dies brauchen. Traumata setzen oft später ein. Die familiäre und soziale Situation muss aufgearbeitet werden. Es braucht einen Betreuungs- und Therapieplan. Die Kinder sind im Übergang dazu, Jugendliche zu werden, Identität zu entwickeln und auch Autonomie und Eigenständigkeit.

BZ: Was bedeutet das für die Kinder?
Zick: Das heißt, sie wissen, was sie getan haben, bekommen immer mehr Einsicht und fangen an, die Tat mit einem Selbstbild zu verbinden. Daraus können weitere psychische Abweichungen wie Belastungen entstehen, aber auch abweichende und kriminelle Karrieren, wenn entsprechende Wegweiser fehlen. Sie werden auch immer stärker mit gesellschaftlicher Ausgrenzung zu leben haben, weil solche Taten hoch tabuisiert und geächtet sind.

BZ: Nach einem so schweren Fall gibt es immer wieder Forderungen nach einer Bestrafung auch von jungen Tätern. Wie bewerten Sie die Strafbarkeitsgrenze ab 14 Jahren?
Zick: Das ist schon mit Blick auf die Radikalisierung diskutiert worden. Es ist gefährlich, Kinder im Übergang zum Jugendlichendasein durch Gesetze bereits zu Jugendlichen zu machen. Das würde bedeuten, ihnen Strafen aufzubürden, die sie vielleicht nicht verstehen, und die ihnen auch nicht helfen. Zentral ist die genaue Diagnostik, also die Frage, ob hier Entwicklungsverzögerungen vorliegen. Wichtig sind auch Analysen des Resozialisierungsplans anstatt schneller Rechtsveränderungen. Auch sollte untersucht werden, was es heißt, wenn sich Kinder mediale Gewaltfantasieren zur Vorlage nehmen. Der Ruf nach Strafe sollte nach dem Verstehen der Tat kommen und nicht umgekehrt.

"Viele Angehörige vermissen oft eine Information über das, was passiert."

BZ: Wie kann eine Unterstützung der Angehörigen und Betroffenen nach einer solchen Tat aussehen?
Zick: Sie brauchen ein umfassendes Beratungs- und Therapieangebot. Manche Opfer solcher Taten leiden sehr viele Jahre darunter. Das wissen wir aus Amoktaten an Schulen. Dort behindern die Leiden noch Jahrzehnte später ein alltägliches Leben. Viele Angehörige vermissen oft eine Information über das, was passiert. Es gibt sehr erfahrene Organisationen wie der "Weiße Ring", die behutsam und ohne große Aufmerksamkeit ihre Arbeit machen. Auch die Polizei, für die eine Tötungsaufklärung eine hoch belastende Aufgabe ist, braucht Unterstützung und Training.

BZ: Was ist noch aus Ihrer Sicht nötig?
Zick: In einer solchen Situation müssen die Anstrengungen hochgefahren werden, es müssen Raum wie Zeit für die professionell Tätigen hergestellt werden. Das gilt ebenso für die Einrichtungen, die am Ende die Täter betreuen.