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Medizin

Medizinerin mit Tourette-Syndrom hat die Lizenz zum Fluchen

  • Rolf Schraa (dpa)

  • Do, 09. März 2023, 20:30 Uhr
    Panorama

     

Stella Lingen ist angehende Ärztin und hat das Tourette-Syndrom. Manchmal verdreht sie unkontrolliert den Kopf oder stößt Schimpfwörter aus. Ihrer Arbeit tut das keinen Abbruch.

Stella Lingen  | Foto: Christoph Reichwein (dpa)
Stella Lingen Foto: Christoph Reichwein (dpa)
Wenn die angehende Ärztin Stella Lingen unterbrochen oder überraschend angesprochen wird, reagiert sie schon mal spontan mit "Halt die Fresse". Aus heiterem Himmel verdreht sie die Augen und schimpft "Hurensohn", ruft "Hitler" oder "Ich habe Corona" – all das ohne Absicht und ohne, dass sie es steuern kann. Lingen will niemanden beleidigen und ist auch nicht Corona-positiv. Die 25-Jährige hat die unheilbare neuro-psychiatrische Erkrankung Tourette, ihre Ausrufe sind Tics, Ausdruck ihrer Krankheit. Seit ihrem 21. Lebensjahr steht die Diagnose fest. Ihr Medizinstudium hat sie trotzdem fortgesetzt. Ende dieses Jahres will sie Examen machen, später promovieren und irgendwann eine Praxis als Allgemeinmedizinerin eröffnen.

Aktuell arbeitet die Essenerin in der Notfall-Ambulanz des Essener Huyssenstifts, ihre nächste Station ist eine Kinder- und Jugendpsychiatrie. Bei der Arbeit störten die Tics kaum, sagt die junge Frau im weißen Kittel. "In Gesprächen mit Patienten bin ich konzentriert, da tauchen sie kaum auf." Meist schaffe sie es dann auch, Tics zu unterdrücken. "Ich kann fast alles machen, auch motorisch, wie etwa Zugänge legen", sagt sie. Sie fährt auch Auto – als sie während des Medizinstudiums im Rettungsdienst gearbeitet hat, steuerte sie auch den Rettungswagen.

"Stella Lingen ist die erste angehende Medizinerin mit Tourette-Syndrom, die ihr Praktisches Jahr bei uns absolviert" Andreas Grundmeier
"Stella Lingen ist die erste angehende Medizinerin mit Tourette-Syndrom, die ihr Praktisches Jahr bei uns absolviert", sagt ihr Chef Andreas Grundmeier, Direktor der Klinik für Notfallmedizin und Internistische Intensivmedizin an den Evangelischen Kliniken Essen-Mitte (KEM). "Wir waren natürlich gespannt, hatten aber nach den ersten Gesprächen keinerlei Bedenken und wurden im Alltag bestätigt", sagt er. Sie sei offen, freundlich und in Behandlungssituationen immer äußerst fokussiert. "Und manchmal entspannt sich in der Notaufnahme durch den Austausch über ihre überraschenden Tics auch eine angespannte Patienten-Situation", sagt der Klinikdirektor.

Tourette-Erkrankungen treten meist schon in der Kindheit auf, bei Lingen zeigte sich die Erkrankung aber erst im jungen Erwachsenenalter – zunächst mit leichtem Zusammenzucken, wie es viele Menschen beim Einschlafen erleben. Später kamen stärkere Armbewegungen und auch verbale Tics dazu, erst Räuspern und Pfeifen, später unkontrolliert ausgestoßene Wörter. Eineinhalb Jahre habe es bis zur Diagnose gedauert – eine Zeit der persönlichen Unsicherheit, auch mit der Frage, ob sie weiter Medizin studieren könne, erzählt sie.

"Schlafmangel ist sogar positiv. Das verringert die Tics" Stella Lingen
Inzwischen hat sie sich mit der Krankheit arrangiert, ihr Selbstbewusstsein ist gewachsen. Sie hat ihrer Krankheit einen Namen gegeben: Steve. Medizinische Kollegen informiert sie, wenn sie neu in eine Abteilung kommt. Patienten sage sie es erst mal nicht, wenn die Situation es nicht erfordere. Auch lange Schichten mit Schlafmangel seien kein Problem, sagt sie. "Schlafmangel ist sogar positiv. Das verringert die Tics." Prinzipiell spreche nichts gegen einen fordernden Job für Menschen mit Tourette-Syndrom, sagt Privatdozent Daniel Huys, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Chefarzt der Allgemeinpsychiatrie an der LVR-Klinik Bonn, der seit Jahren Spezial-Sprechstunden für Menschen mit Tic-Erkrankungen anbietet. "Wir sehen hier einige Erkrankte, die in Führungspositionen arbeiten: etwa als Unternehmensberater, Hotelmanager oder Schiffskapitän."

Entscheidend sei, wie stark beeinträchtigend und belastend die Betroffenen ihre Krankheit selbst wahrnähmen. Der Druck der Krankheit ist natürlich trotzdem da – schon durch die Anstrengung, Tics zu unterdrücken und gelegentlich durch Konflikte mit der Umgebung. Einmal habe sie im Bus Streit bekommen mit einer älteren Frau, weil sie mehrfach "Hitler" gerufen habe, erzählt Lingen. Als die Frau sie verbal attackierte, habe Lingen die Mitreisende rassistisch beschimpft – ohne es zu meinen und ohne etwas dagegen tun zu können. "Das war nicht meine Absicht, Hitler ist nicht meine Gedankenwelt", sagt sie. Das verstehen aber Außenstehende manchmal nicht. Lingen will deshalb mit ihrem medizinischen Fachwissen aufklären über die Krankheit – und das nicht immer bierernst. Die Ärztin hat für den bekannten Youtube-Kanal "Gewitter im Kopf – Leben mit Tourette" von Jan Niklas Zimmermann und Tim Lehmann an mehreren Beiträgen mitgewirkt, in denen manchmal auch kräftig gelacht wird. Seit einiger Zeit hat sie auch ihren eigenen Youtube-Kanal mit bereits mehr als 17.000 Abonnenten. "Stella – Die Lizenz zum Fluchen", hat sie ihn genannt.

Ressort: Panorama

  • Artikel im Layout der gedruckten BZ vom Fr, 10. März 2023: PDF-Version herunterladen

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